Tristan
Dieser Gedanke schien ihm noch nicht gekommen zu sein. Doch Courvenal ließ ihm keine Zeit zum Grübeln.
»Wo und wann soll denn der Knabe >verschwinden«
Dorran stutzte erneut. »Du sprichst meine Sprache viel besser als vorhin!« Er rückte von Courvenal ab. »Bist du etwa …?«
Courvenal biss sich auf die Zunge, er wusste, dass er in seinen Fragen zu weit gegangen war. Im Weinrausch kann es auch sehr helle Momente geben. Einen davon hatte Dorran gerade erwischt. Und nichts ist schlimmer, als wenn Berauschte misstrauisch werden. Sie spüren, wie sehr sie schwanken, und suchen Halt beim Zweifel der anderen. Zweifel kann man nur zerstreuen, Misstrauen muss man ablenken, dachte Courvenal, begann wie aus heiterem Himmel zu lachen, bestellte noch zwei Becher Wein und sagte: »Du meinst, ich sei der Schatten des Schattens der Schatten? Und mein Eruisch findest du gut? Warte mal, bis wir diese beiden Becher intus haben, dann ist es perfectus.« Courvenal lachte von Neuem, Dorran stimmte ein, und der Mönch stieß prustend hervor: »Wo soll denn nun der Knabe in den Schatten verschwinden? Soll er selbst zu einem werden? - Dann wären wir ja schon fünf Schatten!« Jetzt schlug er sich vor Begeisterung über seinen eigenen Witz auf die Schenkel und bekam einen ganz roten Kopf.
Diese Vorstellung der vielen Schatten im Schatten überwältigte Dorran. »Mitten in der Nacht natürlich!«, stieß er kreischend vor Lachen hervor und versprühte dabei Wein aus seinem geöffneten Hals über den Tisch. »In der schwärzesten Nacht des Monats, in der Nacht vor dem Vollmond, die wir Eruis, wir Iren, am meisten fürchten.«
Er lachte noch immer, als Courvenal die Zeche beglich. Von seinem neuen Freund verabschiedete er sich mit einer innigen Umarmung und versprach, am nächsten Abend, wenn Vollmond war, wieder an dieser Stelle zu sein. Dorran ließ er allein und ging schwankend in Richtung der Pfahlbauten davon. Sein Kopf dröhnte, denn er hatte mit dem Iren mithalten müssen. Doch seine Gedanken waren klar. Er wusste, was er zu tun hatte. Es ging um das Leben Tristans.
Ein Traum ~ 132 ~ Eine observatio
In den Klöstern war das Leben ihrer Bewohner geschützt. Es gab Mauern, Tore, aber auch eine Art von Respekt gegenüber diesen Menschen, die jenseits lebten von Eitelkeit, Lüge und Habsucht, die ihr Dasein in Abgeschlossenheit, im Gebet, im Glauben an Gott fristeten. So zumindest stellten sich die meisten Menschen das Leben der Mönche und der wenigen Nonnenvereinigungen in ihren Klöstern vor. Das Unrecht geschieht außerhalb dieser Mauern, dachten alle. Auch Courvenal hatte einst so gedacht. Dass es auch innerhalb der Klostermauern Neid und Habgier gab, dass gestohlen und gelogen wurde, dass man Regeln verletzte und die Keuschheit, wie Christus sie verkörpert hatte, nur eine illusio war, auch das hatte der Mönch schnell kennengelernt.
Die schrecklichste aller Taten jedoch begab sich nur selten hinter Klostermauern, sondern vor allem draußen in der Welt, ob auf dem Marktplatz, in nächtlichen Gassen, in ärmlichen Hütten, in den Kerkern der Burgen oder auf dem Schlachtfeld: das hemmungslose Töten. Überall dort galt das Leben eines Menschen ebenso viel wie das Leben eines Huhns oder einer Ziege. Wenn es notwendig war, jemanden aus welchem Grund auch immer aus der Welt zu schaffen, dann durfte das geschehen. Das Töten war wie ein Handwerk, und ganz gleich, ob es von den Herren befohlen oder von gedungenen Mördern ausgeführt wurde, es wurde meistens gut bezahlt. Mit dem Geld kam der Betrug, und das erste Geld, von dem Courvenal gehört hatte, hieß scrupulum. Denn auch wer nichts besaß, konnte töten, ohne einen scrupulum dafür zu bekommen. Dieser scrupulum war so groß wie ein Wagenrad, je mehr davon gesprochen wurde, umso größer wurde dieses Rad. Es rollte schneller als jedes Pferd lief, es trug ungeheure Lasten, auch den weißen Elefanten, den Courvenal jetzt deutlich vor sich sah. Gezogen wurde der Wagen mit diesem Elefanten, der das Unglück in die Welt bringen sollte, von einem völlig mit roten Haaren bedeckten Mann, sogar auf den Händen wuchsen ihm Haare.
Dieser Anblick war so abscheulich und zugleich schön, dass Courvenal erwachte und erschrak. Was er gesehen hatte, war wie ein zerrissenes Faltblatt voller Bilder. Seine Umgebung erkannte er nicht wieder. Er roch an der Decke, die er sich bis zum Kinn hochgezogen hatte, um sich vor der Kälte zu schützen, und starrte in die Dunkelheit. Langsam
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