Tristan
des Aristoteles weiß er, die Heilige Schrift in allen Psalmen und Überlieferungen mit den Kommentaren kann er frei vorsagen. Jedes Schiff steuert er und führt jede Rotte - ach, ich selbst weiß nicht mehr, was er alles kann, obwohl ich doch sein Lehrer bin. Mein Blut ist nur kälter als seins und fließt nicht mehr so schnell, weshalb ich vielleicht einst nur noch vonnöten sein werde, die Hitze seiner Jugend zu kühlen und seinem stürmischen Schritt eine Brücke zu sein, von der aus er den Abgrund nicht sieht, in den er unbesonnen stürzen könnte.
Viele solcher Bedenken notierte Courvenal immer wieder in seine Hefte. Daneben verzeichnete er sorgsam alle ihre Stationen, die Burgen, Klöster und heiligen Städte, in denen sie Aufenthalt hatten, sei es nur für ein paar Tage oder auch für viele Monate. Wie es ihm gerade einfiel und wichtig erschien, berechnete er in Tabellen ihre Ausgaben, ob für Unterkunft, für Anschaffungen wie Kleider oder dinte (das Wort gefiel ihm so sehr, insofern er es mit der Flüssigkeit, die es bezeichnete, aufschrieb), und unterschied deutlich davon die Gelder, die er für Thomas, Pferde, Packzeug oder Boten bezahlte.
Da ihn derartige Aufstellungen bisweilen tagelang in Anspruch nahmen, andererseits aber währenddessen sich so manches ereignete, was er festhalten wollte, fügte er zwischen seine Zahlenreihen auch den einen oder anderen Absatz ein, der mit Münzen, mit Silber und Gold nichts zu tun hatte. Wie etwa den Bericht über das Trinkglas aus Colonia, das sie nun mehr als fünf Jahre mit sich durch das halbe Heilige Römische Reich trugen, ohne dass Tristan es bis dahin ein einziges Mal aus seinem Behälter genommen hatte.
Eines Abends war es in einer recht unwegsamen Berglandschaft in einer Gegend, die die Leute das Jesenino nannten, geschehen, dass Tristan vom klein gehaltenen Feuer vor ihrem Lager aufstand und nach Thomas rief. Der Knecht, dessen Lager wie immer bei den Pferden war, wickelte sich aus seinen Decken heraus und kam müde und unwillig zum Zelt seines Herrn.
»Bring mir mein Glas!«, befahl Tristan.
»Welches Glas, junger Herr?«
»Das Glas aus Colonia.«
»Haben wir so etwas bei uns?« Thomas war ehrlich erstaunt. Er hatte zwar die Aufsicht über alle Gegenstände und Dinge, die sie mit sich führten, und musste sie immer wieder auf- und abladen, konnte sich aber nicht erinnern, dass sie ein Glas mit sich führten. Und wenn sie es je getan hätten, wäre es wahrscheinlich längst zerbrochen.
»In dem Holzkästchen.« Tristan ließ nicht nach.
Thomas war ratlos. Ein Holzkästchen mit einem Glas? Ein Glas aus Colonia? Langsam kam ihm die Erinnerung daran zurück. Trotzdem stutzte er immer noch. Er glaubte, dieses Kästchen schon seit so langer Zeit weder gesehen, noch in den Händen gehalten zu haben, dass es ihnen längst auf den Reisen abhandengekommen sein musste. »Das gibt es nicht mehr!«, behauptete er folglich.
Tristan schien einen Moment lang wie gelähmt. Starr blickte er ins Feuer. Dann zog er die Augenbrauen zusammen und sagte voller Schmerz und Wut: »>Das gibt es nicht mehr< gibt es nicht! Es muss da sein! Geh und suche es!«
»Aber junger Herr, wie denn? Es ist stockdunkel bei den Pferden und den Taschen. Sie sind voll von Zeug, von Schatullen und Kistchen. Wie soll ich es da erkennen?«
»Nimm dir eine Fackel und suche es, sofort!«
Jetzt brachte sich Courvenal ein, der dieser Auseinandersetzung zwischen dem Knecht und Tristan, der den um ein paar Jahre älteren Weggenossen an Klugheit und Geschicklichkeit längst hinter sich gelassen hatte und ihm nur noch an Körpergröße und Kraft unterlegen sein mochte, schweigend gefolgt war. »Das geht nicht«, sagte er ruhig in Richtung Tristans. »Thomas darf keine Fackel entzünden. Zum einen haben wir für etwas, was man auch noch morgen im Tageslicht suchen kann, zu wenige fiäccolas bei uns, zum anderen könnte uns ihr Licht verraten. Wir haben all unsere Tagesreisen bisher ohne eine Auseinandersetzung mit Wegelagerern gut überstanden, weil wir uns des Nachts unauffällig verhielten. Streit und Wut zieht Räuber, Diebe und Mörder an wie das Licht die Motten. Warte bis morgen, dann soll Thomas nach dem Kästchen schauen.«
»Das geht doch!«, sagte Tristan und sah dabei Courvenal nicht an. »Dann soll er das Kästchen eben in der Dunkelheit mit seinen Händen finden. Er soll es erfühlen. Das ist nur eine andere Art des Sehens. Los jetzt! Tue, was ich dir sage!« Er blickte Thomas streng
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