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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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an.
    Da Courvenal diesen Befehl nicht abmilderte, schlich Thomas, leise fluchend, davon. Courvenal schwieg und hatte den Kopf wieder auf sein Lager sinken lassen. Tristan starrte ins Feuer. Tränen waren ihm in die Augen getreten, doch um seinen Mund war kein Zeichen von Bitterkeit.
    Nach geraumer Zeit trat Thomas ans Feuer, das nur noch an ein paar Stellen aufflackerte, sonst aber ein Gluthaufen war. »Ich hab’s gefunden!«, sagte er freudestrahlend mit leiser Stimme, weil er glaubte, Courvenal schliefe.
    »Gib her!«, befahl Tristan unvermindert laut, nahm das Holzkästchen, löste den mit Wachs und Schnallen zugehaltenen Deckel und zog aus dem Inneren vorsichtig das in Wolle und Lederstreifen eingewickelte Gefäß heraus, das sich von einem schlanken Fuß nach oben hin wie ein Kelch verbreiterte und an dieser blütenhaften Öffnung von einem blauen Faden umwickelt war. Es war unversehrt. Um es besser betrachten zu können, legte er trockene Ästchen auf die Glut, die das Feuer neu entfachten, und drehte das Glas andachtsvoll wie eine Reliquie in seinen Händen.
    Courvenal richtete sich von seinem Lager auf. Er hatte nicht geschlafen, sondern die Vorgänge aus den Augenwinkeln beobachtet, und war neugierig, warum sich Tristan ausgerechnet in dieser Nacht das Glas hatte bringen lassen. Der achtete gar nicht auf seinen Lehrer, sondern verlangte von Thomas: »Bring den Beutel mit dem Wein und schütte das Glas voll!«
    Bei diesen Worten war Courvenal hellwach. »Wein?«, fragte er erstaunt.
    Thomas zögerte, um abzuwarten, ob Courvenal einschreiten würde.
    »Wein«, sagte Tristan nochmals bestimmt. Das Holz knackte im Feuer, sonst war kein Laut zu hören. Weil der Mönch seinen Schüler mit offenem Mund anstarrte, verschwand Thomas, holte den Schlauch mit dem Wein und goss das Glas voll.
    »Gleich ist es so weit«, sagte Tristan und schaute in den Sternenhimmel. »Seht ihr - da hinten über dem Horizont taucht der rote Stern auf. Nach meinen Berechnungen beginnt nun ein neuer Tag. Der Tag meiner Geburt vor zwölf Jahren. Jetzt trinke ich wie unser krist den Wein, als wäre es sein Blut. Ich trinke ihn zuerst und das erste Mal.« Er trank und reichte das Glas an Courvenal weiter. Der nahm das Glas und trank es aus. »Gieß nach«, sagte Tristan zu Thomas, »nimm einen Schluck.« Halb voll reichte Thomas das Gefäß an Tristan zurück, der es nochmals an seinen Mund setzte und zuvor leise sagte: »Ich denke an meine Mutter und meinen Vater.« Er schloss die Augen und ließ den Rest der Flüssigkeit in seinen Mund rinnen. Mit einem Zipfel seines Hemdes wischte er das Glas aus, nahm Wolle und Lederreste, umschlug damit das Gefäß, steckte es vorsichtig in den Holzbehälter zurück und verschloss ihn mit dem Deckel. Das Kistchen gab er Thomas, wünschte ihm und Courvenal noch einen guten Schlaf und wickelte sich in seine Decken ein.
    Das Feuer war niedergebrannt, Thomas entfernte sich. Courvenal blieb noch wachend eine Weile bei der verglimmenden Glut, voller Verwunderung darüber, was er soeben miterlebt hatte: Tristan hatte sich wie ein Erwachsener verhalten, der an sich selbst denkt und an seine Herkunft, in den Sternen aber erblickte er seine Zukunft. Courvenal sah in den Himmel. Dort standen die winzigen funkelnden Lichter, geheftet an die Glocke der schwarzblauen Nacht, wie sie schon von den Alten beschrieben worden waren. Nirgends war ein roter Stern zu entdecken.
    Dies alles muss ich morgen aufschreiben, dachte Courvenal, und er wusste schon, wie er den Abschnitt beginnen würde: »Am Himmel gibt es keine roten Sterne. Doch es ist etwas geschehen …«
     
    Wachtraum ~141~ Wiederholung
     
    Später, Jahre später, hätte Tristan nicht mehr genau sagen können, wo es ihm passiert war: ob auf einer Lagerstatt in den Bergen, in einem der armen Klöster an den Hängen des Vesuvius, ob in der Kemenate auf der Burg eines sizilianischen Grafen oder in der Nacht, als er sein Glas suchen und es mit Wein füllen ließ. Den Moment, in dem es geschehen war, würde er allerdings nie vergessen.
    Er lag in tiefem Schlaf, wie er meinte, und war doch ganz bei sich. Ein Traum musste ihn aufgeweckt haben, als hätte ihn jemand berührt. Er drehte sich auf die Seite und rollte wieder in die Rückenlage zurück. Seine Hände lagen auf der Decke oder dem Fell, das ihn wärmen sollte. Er spürte seine Glieder, bewegte die Finger, rieb sie aneinander, als wären trockene Gräser dazwischen, die er zerkleinern wollte. Auch seine Füße

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