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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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willst. Lauf durch die Straßen, geh ans Meer, bete zu Gott, unserem Herrn, schreib deinen Eltern Briefe, besuche die Märkte oder setze dich im Hof des Kreuzgangs auf eine der Bänke und lese in der Heiligen Schrift. Es gibt nichts, was du tun musst, und alles, was du tun kannst. Das nennt man feriae. Du bist frei.«
    Dieses kleine Wort verwirrte den Jungen über alle Maßen. Die ersten Tage besuchte er alle Andachten und Messen, hörte sich die Gesänge der Mönche an, verließ aber das Kloster nicht. Als er das erste Mal aus der Pforte trat, stand gleich Thomas, mit Nella an einer Leine, neben ihm. Die Hündin sprang freudig winselnd an Tristan hoch, doch Thomas riss sie zurück.
    »Was machst du hier?«, fragte Tristan fast erschrocken. »Und warum ist Nella an einer Leine?«
    »Ich begleite dich, sie begleitet mich.«
    »Warum?«
    »Das hat der Herr so befohlen. Wo du hingehst, gehe auch ich hin. Ich passe auf dich und Nella auf. Städte sind gefährlich. Hunde werden gefangen, geschlachtet und gegessen. Du musst keine Angst haben: Ich gehe nicht neben dir her, ich folge dir immer im Abstand. Niemand wird das bemerken.«
    »Warum sagst du auf einmal >du< zu mir?« Tristan sah ihn misstrauisch an.
    »Weil wir unter uns sind. Ich passe auf dich auf, aber niemand passt auf mich auf. Auch ich habe Ferien, auch ich bin frei.«
    Thomas hatte ein Lächeln um den Mund, das Tristan nicht gefiel. Dem Knecht war ein flusiger Bart um Kinn und Mund gewachsen, der ihn wie einen ungewaschenen Strauchdieb aussehen ließ, und in den Augen des Knechts lauerte Spott und Überheblichkeit, die Tristan skeptisch machten: »Courvenal hat mir gesagt, dass ich frei wäre. Aber wie kann ich das sein, wenn du mir wie ein Schatten folgst?«
    »Jeden begleitet ein Schatten.«
    »Es ist immer nur der eigene.«
    »Das bin dann eben von nun an ich.«
    »Bekommst du dafür Kupfer oder Silber?«
    Thomas tat so, als hätte er diese Frage überhört, und sah zur Seite, folgte, weil Nella hechelnd an der Leine riss, mit den Blicken einem Hund, der über die Gasse lief.
    Tristan kehrte ins Kloster zurück. So hatte er sich sein Freisein nicht vorgestellt. Er ging in seine Zelle, die sonst ein Mönch bewohnte, der gerade auf Pilgerfahrt war. Dort dachte er lange nach, was er machen könnte. Vor seinen Augen stand noch das Bild des Hundes, dem Thomas hinterhergeschaut hatte, ein Hund, klein und gedrungen und mit einer spitzen Schnauze - wie ein Fuchs. Das erinnerte ihn an das nächtliche Theaterspiel auf dem Platz in Constantia. Dieser Fuchs hatte mit seiner Schlauheit alle überlistet, sogar den Löwen, seinen König. Es wurde ihm dabei auch recht leicht gemacht, weil die anderen Tiere, der Dachs und der Bär, besonders dumm waren, sogar der König war es. Und Thomas?
    »Die Schwächen des Feindes sind unsere Stärken, man muss sie nur erkennen« - an diese Einsicht in einer der Schriften des Plutarch, den er im Kloster Einsiedeln in der Schweiz studiert hatte, erinnerte sich Tristan. An irgendeiner Stelle im Alten Testament hatte er Ähnliches gelesen. Damals hatte er keine Lösung für das Rätsel gefunden, das dieser Satz enthielt. Denn es war nicht klar, ob man die Schwächen des anderen oder die eigenen Stärken erkennen sollte, um erfolgreich zu sein. Vielleicht ging es, wie in vielen solchen Sätzen, gar nicht um das substantivum, sondern um das verbum, also um das »erkennen«. Dann wären weder die »Schwäche« noch die »Stärke« das Entscheidende und beides sogar austauschbar, sodass auch der Schwache stark sein konnte, wäre er vor allem dazu fähig, dies zu »erkennen«. Tristan nahm sich vor, dies am nächsten Tag zu überprüfen.
    Nach dem Morgengebet machte er sich gleich auf den Weg in die ihm noch gänzlich unbekannte Stadt. Er hatte einen der Mönche gefragt, welche Richtung er einschlagen sollte, um zur Kathedrale zu gelangen. Vom Kloster aus führte eine Gasse erst hinunter zum Hafen, dann musste er die Gasse der Töpfer finden und sollte von dort aus immer das Meer im Rücken haben - so könnte er das Gotteshaus nicht verfehlen.
    Tristan hatte kaum das Kloster verlassen, da hörte er schon Nella bellen, die ihn begrüßen wollte. Thomas, sein Schatten, folgte ihm also und machte dies sehr geschickt. Denn sooft Tristan sich auch umwandte, nirgends sah er den Knecht, und auch die Hündin verriet ihn nicht mehr durch ihr Gekläffe. Andererseits fiel ihm auf, dass sich viele der Leute in den Gassen nach ihm umschauten. Es gab

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