Tristan
Instrumente ziehen oder Schnüre zum Flechten und Knoten. Kein einziges Stück von dem Hirsch ging verloren, jede Schale, jeder Knochen hatte eine Bedeutung und diente einem Zweck.
Die Jäger umstanden den Jungen und staunten. Derartige Geschicklichkeit hatten sie noch nicht gesehen. Aus ihrer gewohnten Art, ein Tier zu vierteilen, entwickelte sich vor ihren Augen die Vielfältigkeit aus einem Einzelnen, die Gliederung eines Ganzen, ein Sinn des Organismus bis in seine Einzelteile hinein. Es war wie ein Wunder. Als zum Schluss der Jüngling schweißnass vor der ausgebreiteten Decke stand, auf der sich, wie auf einer Karte, die wertvollen Teile wie von selbst geordnet hatten, war es Lebuin, dem Anführer der Jäger, als müsste sich das Fell nur wieder zusammenfalten, dem Rumpf der Kopf mit dem mächtigen Geweih wieder aufgesetzt werden, und der Hirsch würde davonspringen, als hätte ihn Eardweards Tod bringender Pfeil nie getroffen. Wenn Lebuin sich dabei vorstellte, was Marke sagen würde, wenn sie ihm derart drapiert, fast mundgerecht ein so edles Tier vor die Füße legten, begann sein Herz vor Freude zu hüpfen. Selbst das Jagen bekam einen anderen Sinn, denn es diente nicht mehr nur dazu, etwas zu essen zu bekommen, sondern zollte auch der Schönheit und Vollkommenheit der Natur einen Tribut.
Fast liebevoll blickte er auf den jungen Mann, wie er am Feuer stand, das die Knechte bei einbrechender Dunkelheit entfacht hatten. Tristans blondes Haar glänzte beinahe golden, und seine Gestalt war von solcher Ebenmäßigkeit, wie man sie bei Menschen nur selten fand.
Tristan freute sich mit den Jägern. Am Feuer aß er nicht zu viel, um ihnen nicht zu zeigen, wie ausgehungert er war. Fragen nach seiner Herkunft wich er aus, indem er von seinem Jagdlehrer erzählte, der ihm das alles beigebracht hatte. Er nannte ihn »Kural« und dachte bei jedem Wort, das er über ihn sprach, an Courvenal.
»Von diesem Kural musst du unbedingt König Marke erzählen!«, sagte Lebuin, »und uns musst du bei unseren nächsten Jagden begleiten, damit wir lernen können, was du gelernt hast. Es geschah alles so schnell, als du den Hirsch ausgeweidet hast, dass keine Zeit dafür blieb zu sehen, wie du es tatest. Hast du mein zweites Messer nur gebraucht, um dein erstes daran zu wetzen, oder hast du mit beiden gleichzeitig das Fleisch geschnitten? So kam es mir nämlich vor.«
»Was immer auch geschah«, lenkte Tristan wieder von der Frage ab, »mehr als besonders wird sein, wenn morgen der Jagdzug in die Burg einreitet.«
»Morgen? Was meinst du? Wir sind zwei Tagesritte von Tintajol entfernt.«
»Tintajol?«
»Der Burg unseres Königs. - Hast du noch nie davon gehört?«
»Von Tintajol? - Bien sür.«
Tristan war erleichtert, dass die Jäger sich nochmals an den morgigen Tag erinnerten und den »strengen Ritt«, den sie noch vor sich hatten - so bemerkten sie seine Unsicherheit nicht. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass er seinen Vater zusammen mit Courvenal einmal von Tintajol hatte sprechen hören, doch die beiden waren gleich verstummt, als er zu ihnen trat.
»Es muss auch noch mehr kleines Getier, Rebhühner und Hasen und Schweine, gejagt werden«, redete Lebuin weiter, »denn Markes Hof ist groß und ebenso der Hunger der Herren, die dort leben.
»Und ebenso der der Frauen«, warf Tristan ein, als sie sich schon vom Lager erhoben. Er hatte wieder nur ablenken wollen von sich und traf mit seiner Bemerkung ins Schwarze.
»Seit Blancheflur verschwunden ist, gibt es keine Frauen mehr am Hofe«, sagte Lebuin trocken. »Wir dürfen nicht einmal ihren Namen erwähnen. Wusstest du das nicht? Alle Welt weiß es doch.«
»Die Welt scheint groß zu sein«, sagte Tristan wieder ausweichend und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich endlich von Lebuins Seite entfernen zu können. Doch ausgerechnet im Zelt des Anführers der Jäger hatte man ihm einen Schlafplatz eingerichtet. Der Mann erzählte weiter vom Schicksal seines Königs und fand kein Ende, dessen Leid zu beklagen, als müsste er es teilen. Die Aussicht, ihn aufheitern zu können durch diesen so einzigartig zerlegten Hirsch, machte ihn redselig.
Tristans Gebet ~179~ Einritt in Tintajol
Als Lebuin endlich zur Ruhe kam und schnarchte, sprach Tristan noch in ii seinem Inneren ein Gebet. Herr, sagte er und dachte dabei an den, der die Welt erschaffen hatte und die Geschicke ihrer Bewohner lenkte, Herr, ich danke dir, dass du mir diese Jäger geschickt hast. Sie
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