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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Fahnen. »Ein Wespennest« nannte Rual seine Burg. Er hatte als Aufseher am meisten zu tun.
    Tristan gelang es bisweilen, am Nachmittag für ein paar Stunden mit Floräte zusammenzusitzen. Dann ließ er sich von Blancheflur berichten und von den Tagen seiner Kindheit erzählen, an die er sich nicht erinnern konnte. Fehlten ihm eigene Bilder, musste er sich an die Worte seiner Mutter halten, wie er Floräte weiterhin nannte.
    Er sichtete auch die Bücher, die Auskunft über die Verwaltung der Burg während der Zeit gaben, als er mit Courvenal auf Reisen gewesen war. Schließlich sichtete er an einem Vormittag die Truhe, in der Rual Riwalins und Blancheflurs Hinterlassenschaft für ihren Sohn aufbewahrt hatte. Tristan wollte mit diesen Dingen, die darin verborgen waren, allein sein und schloss sich in seiner Kemenate ein. Dann öffnete er die Truhe. Er kniete davor, hielt den Reif in den Händen, den Blancheflur bei ihrer Ankunft auf Conoêl im Haar getragen hatte, gewirkt aus schmalen Bändern von Silber und Gold, woran sie ihren Schleier, ein feines fernöstliches Gewebe, befestigt hatte. Er fand Riwalins Dolch, seine Stiefel, einen Armreif, eine Fibel und an einem Gürtel ein Säckchen mit zwei Feuersteinen neben einer Handvoll Zündspäne.
    Eingeschlagen in ein wollenes Tuch geriet schließlich die goldene Kugel in seine Hände, an die er sich noch gut erinnern konnte. Als er sie berührte, wunderte er sich, wie glatt und geschmeidig sie war und wie gut sie in seine Hand passte. König Marke hatte davon erzählt, dass er sie einst seiner Schwester geschenkt hatte. Jetzt kannte er ihre Herkunft und ihre Bedeutung, ein Faustpfand zu sein, das in der Not helfen sollte, wenn alles verloren schien. Zwei solcher Kugeln hatte es gegeben, doch die eine musste König Marke für Münzen einschmelzen lassen, um seine Läufer zu bezahlen, die er in die Welt schickte, um Auskunft zu erhalten über das Schicksal von Blancheflur. Eine der Münzen hatte er einem Knecht gegeben, den er nach Parmenien geschickt hatte.
    Zugleich mit der Erinnerung daran, dass er, Tristan, schon einmal bei dieser Truhe zusammengekauert gesessen hatte, kamen ihm Bemerkungen Florätes ins Gedächtnis über zwei Späher, die zur selben Zeit aufgetaucht waren, als er mit Courvenal von den Norwegern entführt worden war. All die vergangene Zeit habe sie nie recht verstanden, weshalb sie von Linnehard so lange festgehalten wurden, obwohl sie nach Ruals damaligem Urteil nach einem Jahr hätten freikommen müssen. Als sie Tristan davon berichtete, konnte er nichts damit anfangen. Jetzt aber gerieten seine Gedanken durcheinander. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte, nach dem Beginn der Episoden zu suchen, die sie betrafen. Denn noch ein weiteres Bild gesellte sich dazu: Drei Männer bedrängten ihn, als er noch ein Kind war, und forderten Abgaben. Da hielt er ihnen die Kugel entgegen - und die Männer verschwanden.
    Verwirrt steckte Tristan die Kugel in den Beutel an seinem Gürtel und suchte Floräte auf. Er fand sie in der Kammer bei den Stoffen und Waffen, die zusammen aufbewahrt wurden. Sie sortierte und zählte alles durch, wie Rual es ihr aufgetragen hatte.
    Tristan schickte die beiden Mägde fort. »Mutter«, sagte er in eindringlichem Ton. Floräte erschrak darüber, auch weil er sie dabei so merkwürdig ansah. »Tristan, was willst du?«
    »Was ist mit den Gefangenen?«
    »Welchen Gefangenen?«
    »Wo sind sie, im Turm?«
    »Dort befinden sich zwei in der Zelle.«
    Als sie das sagte, stockte ihm der Atem. Auch Elbeth, die er nie vergessen konnte, hatte in >der Zelle< gesessen. »Sind sie noch am Leben?« Floräte sah ihn erstaunt an. »Ich glaube schon.«
    »Lass sie herausholen!«
    Seit vielen Jahren hatte ihr niemand mehr so entschieden einen Befehl erteilt. Zunächst konnte sie nicht antworten. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr sagte, was sie tun sollte. Nicht einmal Rual hatte jemals so mit ihr geredet. Und jetzt stand Tristan vor ihr, ihr Sohn, der er nicht mehr war, und ihr Fürst.
    »Hol sie heraus!«, hörte sie ihn noch einmal sagen und fragte dann unterwürfig, wohin sie die beiden bringen lassen sollte.
    »In den Saal - und zwar sofort, ohne jede Verzögerung, so wie sie sind. Jetzt.«
    »Nund«, hatte er auf Lateinisch gesagt, sich abgewandt und die Kammer verlassen. Er ging zum Saal, wartete dort und legte sich dabei die Fragen zurecht, die er ihnen stellen wollte. Sollten die beiden noch einigermaßen bei Sinnen sein, würde er

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