Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
Vom Netzwerk:
Isolde saß an einem Tischchen. Dorran kniete vor ihr nieder und senkte das Haupt.
    »Wie lange warte ich jetzt schon - zum zweiten Mal! - auf dich und die Erfüllung deiner Aufgabe?«, fragte sie mit verhaltener Stimme.
    »Ich weiß es nicht. In Gefangenschaft verliert man die Übersicht. Ich saß in einem Raum, in den nur durch einen kleinen Schlitz in der Mauer das Tageslicht drang. Ich kann nur die Finger meiner Hände zählen und weiß, dass der Monat dreißig Tage hat. Wie viel dreißig Tage sind, weiß ich nicht. Wenn der Mond wiederkommt und voll am Himmel steht, sind dreißig Tage vergangen. Den Mond konnte ich aus meiner Zelle nicht sehen. Verzeiht mir, meine Königin. Der Bote, der Euch geschickt wurde, wird Euch mehr sagen können.«
    »Welcher Bote?« Isolde horchte auf.
    »Der Bote des Fürsten von Parmenien. Er lässt Euch durch mich …«
    »Bei mir hat sich kein Bote gemeldet. Was redest du?«, unterbrach sie ihn gereizt. »Und wie heißt der Fürst?«
    »Man hat mir seinen Namen nicht genannt. Er hat…«
    »Ich weiß es!«, schrie sie gellend und stand auf. Dorran hörte nur das Schaben ihres Rocksaums auf den Fliesen und ein, zwei Schritte, die sie machte. Er wagte es nicht aufzublicken. »Tristan heißt er! Das ist der, den du mir bringen solltest und wofür ich dir einen Sack voll Münzen gab. Du - du willst mir erzählen, dass du jahrelang in einem Kerker gesessen hast? Mein Silber hast du verprasst und einen Dreck darum gegeben, deiner Königin zu helfen. Du hast dein Land verraten. Ich frage mich nur, wie du es wagen kannst zurückzukehren.«
    »Der Fürst hat mich beauftragt…«
    »Welcher Fürst?«
    »Der König von Parmenien.«
    »Was will er?«
    »Er schickt Euch diese Zeichnung von sich.« Dorran hielt die verhüllte Wachstafel über seinen Kopf. Sie wurde ihm aus der Hand genommen. Er sah, wie das Tuch zu Boden fiel, dann war einen Moment lang Stille.
    »Das solltest du mir geben? «
    »Deshalb bin ich hier.«
    Wieder Schweigen. Dorran zitterte. Jeden Augenblick konnte der Befehl der Königin erfolgen, ihn abzuführen. Doch stattdessen sagte sie zu ihm: »Steh auf!« Ihre Stimme klang ruhig. Während er sich aufrichtete und auf die Königin blickte, sah er, wie sie sich setzte. Isolde, die er vor etlichen Jahren noch täglich gesehen hatte, trug jetzt die Haare zurückgebunden, und sie schien im Gesicht ein wenig voller geworden zu sein. In den Händen hielt sie die Tafel und drehte sie langsam von unten nach oben und wieder zurück. Dabei lächelte sie. »Hast du dir die Tafel angeschaut?«, wollte sie wissen, ohne den Blick auf Dorran zu richten.
    »Ja, meine Königin.« Dorran sah auf den Fliesenboden vor sich.
    »Und was hast du darauf entdeckt?«
    »Ein Gesicht. Augen, Nase, Mund.«
    »So also sieht Tristan, der König von Parmenien, aus?«
    »Ich weiß es nicht. Bevor ich hierher zurückkam, wurde ich von einem Herrn ausgefragt. Aber er verbarg sich hinter dem Schein von Lampen in einem fensterlosen Raum. Ich hörte nur seine Stimme.«
    »Wie klang sie?«
    Dorran wiederholte langsam die Frage, um Zeit zu gewinnen: »Wie sie klang?« Er spürte, dass er Glück haben könnte und vielleicht doch nicht abgeführt wurde. »Jung«, sagte er.
    »Noch etwas?«
    »Er sprach verschiedene Sprachen.«
    »Wie die Stimme klang!« Isolde verfiel wieder in einen fordernden Tonfall. »Wie eine Melodie.«
    »Also angenehm für deine Ohren?«
    »Angenehm. Wie bei einem Lied.«
    »Sag sie mir vor!«
    »Was?«
    »Die Stimme! Sag etwas mit der Stimme, die du gehört hast!«
    »Das kann ich nicht.« Dorran riss die Augen auf und musste heftig schlucken.
    »Sag, als würdest du singen wie diese Stimme: >Schlag ihm den Kopf ab!<« Dorran räusperte sich. Seine Kehle war plötzlich trocken, wie ausgebrannt. »Sag es!« Jetzt sprach Isolde in ganz hohen Tönen. Das kannte er noch von früher. So redete sie immer, wenn sie wütend war. Dann überschlug sich ihre Stimme sogar. Und wenn nicht getan wurde, was sie befohlen hatte, schrie sie nach ihrer Wache.
    »Schlag ihm …«, weiter kam Dorran nicht. Er musste husten und spuckte ein paar Laute aus sich heraus.
    »Dachte ich mir’s doch.« Isolde schien mit sich selbst zu sprechen. »Der Mund ist schön, die Nase gerade, die Augen blicken treu - selbst auf dieser einfachen Zeichnung. - Du hast mir zwar den Mann nicht gebracht, aber immerhin ein Bild von ihm, hinter dem er sich verbergen wollte, ohne es zu können. Das beweist, dass er ehrlich ist - oder

Weitere Kostenlose Bücher