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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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aushändigte. Die Tafel bei der Königin nicht abzuliefern, wurde Dorran eingeschärft, bedeute seinen sicheren Tod. Es sei schon ein Bote an die Königin unterwegs, der ihr das Geschenk ankündigte. Um auf Dorran noch mehr Druck auszuüben, waren ihm während der ganzen Überfahrt die Hände gefesselt und die Augen verbunden.
    Als das Schiff nach vielen Tagen in Wexford ankam und Dorran freigelassen wurde, brauchte er lange, bis seine Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt waren. Man hatte ihn zu einer Hafenmauer geführt und ihn dort neben einer steinernen Treppe allein gelassen. Anfangs verhielt sich Dorran ganz still. In den Händen hielt er die in ein Tuch eingeschlagene Tafel. Irgendwann holte er sie ans Tageslicht hervor. Das Gesicht, das darauf abgebildet war, bestand aus zwei Augen, aus Nase, Mund und Kinn, wie auch ein Kind es hätte in den Sand kritzeln können. Wenn er diese Tafel seiner Königin übergeben würde … -
    Dorran wagte nicht, daran zu denken, was dann wohl geschah! Aber er musste den Auftrag ausführen, wenn schon ein Bote vorausgeeilt war. Wie sollte er das alles erklären: seine neuen Kleider, die Haare, die man ihm geschnitten hatte, der abgenommene Bart und der Ring an seinem Finger, der sich nicht abstreifen ließ? Außerdem war ihm wohl ein Mann zur Seite gegeben worden, der ein Knecht des parmenischen Königs sein musste, für kurze Zeit verschwunden war und wieder mit einem Pferd auftauchte, das er am Zügel führte. Er übergab Dorran, der noch immer am Boden hockte, die Schnüre und machte ihm Zeichen, dass er aufsteigen und losreiten sollte. Dorran war ratlos und versuchte, mit dem Mann zu sprechen, ihn auszufragen. Der Mann deutete als Antwort immer nur mit dem Finger auf seinen Mund und zeigte ihm danach eine hohle Faust, bis Dorran daraus folgerte, dass er keine Zunge mehr habe. Das versetzte ihn in Angst und Schrecken, er stieg aufs Pferd und trat ihm in die Flanken, um so schnell wie möglich an Isoldes Hof zu gelangen. Angstvoll klopfte er an die Tür des Haupthauses, nannte seinen Namen, bat um Einlass und sah dabei hinter sich immer noch die Gestalt des wortlosen Fremden.
    Als ihm schließlich der Wachsoldat der Königin Einlass gewährte, sah er sich, bevor sich das Tor hinter ihm schloss, noch einmal um. Da winkte ihm der Fremde zu und wendete sein Ross. Dorran zitterten die Beine, und wie aus weiter Ferne hörte er die Worte: »Königin Isolde erwartet dich!«
     
    Die Wachstafel ~197~ imitatio
     
    Dorran wäre in diesem Augenblick gern ohnmächtig geworden. Doch sie hatten ihn auf Conoêl im vergangenen Monat mit gutem Essen versorgt, sodass er wieder zu Kräften gekommen war. Körperlich ging es ihm nicht schlecht, dennoch fühlte er sich kraftlos, schuldig und ängstlich wie ein Kind.
    Auf dem Weg zum Gemach der Königin, zu dem ihn einer ihrer Knechte, der sich Heggen nannte, begleitete, drückte er sich an den Wänden entlang wie ein Verurteilter, der seinen todspruch empfangen sollte. Unter seinem Arm hielt er die Wachstafel und sah den Zornesausbruch seiner Königin voraus, wenn er ihr das darin eingekerbte Bild zeigen würde. Flüche würde sie ausstoßen, dass er ihr eine Kinderzeichnung brachte, und es war nur allzu naheliegend, dass sie deswegen sein Leben für unwürdig befand und ihn auf der Stelle hinrichten ließ. Dazu brauchte es nur, dass man ihm die Hände auf den Rücken band und ihm wie einem Huhn auf einem Holzpflock den Kopf abschlug. Wie oft hatte er das mitansehen müssen, wie schnell war das immer geschehen! Niemand achtete darauf, es hatte sich ja keiner dafür zu verantworten. Es gab den Befehl, meist nur einen Wink, ein Knebel wurde in den Mund des Verurteilten gesteckt, damit seine Schreie niemanden störten, der Gang auf den Hof war kurz, es wurde dabei nicht gesprochen, das Schwert sauste nieder und trennte den Kopf vom Leib. Knechte kamen, trugen den Körper weg zu einer der ausgehobenen Gruben, warfen ihn hinein, den Kopf dazu und schütteten die Grube mit Erde zu, oft nur mit bloßen Händen. Das alles geschah so rasch, so lautlos, es war getan und dabei schon vergessen. Mit ihm, Dorran, dessen war er sich sicher, würde an diesem Abend das Gleiche geschehen. Das durfte nicht geschehen! Er wollte leben! Er hatte doch alles getan, was seine Königin von ihm verlangt hatte!
    Heggen trieb ihn vorwärts: »Die Königin wartet nicht ewig auf dich! Bewegung!«
    Es wurde dunkler in dem Raum, nur ein paar wenige Lämpchen waren angezündet.

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