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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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war alles die reine Freude, was sie erlebte, jeder Tag.
    Die beiden gingen anfangs gar nicht in den furchtbaren Wald, sondern Isôt führte Tantris auf ihre Lieblingswiese. Sie lag oberhalb des Bergklosters, dessen Gewölbe, in denen Benedictus und seine Mönche bei immerwährendem Kerzenlicht in stickiger Luft Schriften und Bücher kopierten, sie mit wilden Gräsern zum Teil überwucherte.
    »Stell dir das doch einmal vor«, sagte Isôt, »das, was du nicht sehen kannst - eine geheime, dunkle Welt unter unseren Füßen, kratzende Federkiele, die Buchstaben und Zeichen ins Pergament ritzen, damit Wörter erhalten bleiben! - Und jetzt sieh dich um: Vor unseren Augen blühen Gräser und Pflanzen nur einen Sommer lang in solch schönen Farben, mit solch schönen Formen, wie sie Benedictus nicht einmal hervorbringen könnte, wenn er flüssiges Gold auf die Seiten rinnen ließe. Nok hoekkad wanda - war es nicht das, was du mich bei unserer ersten Begegnung gelehrt hast: Wundere dich nie über das, was dir begegnet?«
    Tristan, der sich mit Isolde ins hohe Gras gesetzt hatte, musste lachen. »Du legst meine Worte so aus, wie du es haben willst!«, sagte er. »Ich habe etwas anderes gesagt und gemeint: Wundere dich nicht, wenn dir etwas anderes begegnet, als du selbst es bist - das drückt dieser nordische Spruch aus.«
    »Und diese Blume hier«, sagte Isolde und schien gar nicht auf Tristan gehört zu haben, sondern hielt eine blaue trichterförmige Blüte in der Hand, aus der gerade rückwärts eine dicke Hummel hervorkroch, »diese Blume hat dir das Leben zurückgegeben.«
    »Mit oder ohne Hummel?«, wollte Tristan lachend wissen.
    »Dummkopf!« Auch Isolde musste kurz lachen und sprach gleich ernsthaft weiter: »Das ist kein Spaß. Aus dem Saft dieser Blüten hat meine Mutter das Gegengift gewonnen, das dich geheilt hat. Ohne diese Blume, ohne diese Wiese wärst du schon längst bei deinen Ahnen. Wie heißen die eigentlich? Du hast mir noch nicht mal was von deinen Eltern erzählt - wie ist das lateinische Wort dafür? - parentos-, also: Wer sind deine ParentosV.«
    Diese und ähnliche Fragen nach seiner Herkunft und nach seinem Werdegang gaben Tristan immer wieder die willkommene Gelegenheit, Isolde fabulae zu erzählen. »Es heißt parentes und nicht parentos. - Der Palast, in dem meine Eltern wohnten«, begann er, »lag an einem großen Fluss und hatte einunddreißig Zimmer. Deshalb hieß er auch palass ianuarius, weil der erste Monat im Jahr einunddreißig Tage zählt. Das einunddreißigste Zimmer war meins, und dieses Zimmer bestand wiederum aus einunddreißig kleinen Räumen. In einem schlief ich, in einem wurde ich unterrichtet, in einem anderen aß ich, im fünften oder sechsten lagen einunddreißig Holzpuppen, mit denen ich spielte und immer so weiter. Im siebzehnten, glaube ich - war es das siebzehnte? -, lernte ich, mit dem Schwert zu kämpfen, doch Singen und Spielen begannen schon im zwölften. Genau weiß ich das alles nicht mehr, es liegt schon so lange …«
    »Und in welchem Zimmer«, unterbrach ihn Isolde, die ihm alles aufs Wort glaubte, »hast du auf einer solchen Wiese gelegen?«
    »Oh!«, erwiderte Tristan voll gespielten Erstaunens. »Ein Zimmer mit einer Wiese gab es im Mai-Trakt meiner Eltern. Dort wuchsen die Blumen sogar von einer der Zimmerdecken herab. Rundum waren Fenster, und die Blüten wendeten ihre Köpfe nach der Sonne.«
    »Ist denn auch für euch die Sonne der Gott, nach dem sich alles richtet und entscheidet?« Isolde hatte sich im Gras aufgerichtet und sah Tristan, der noch immer neben ihr auf dem Boden lag, mit ernsten Augen an.
    »Wir denken«, sagte Tristan nach einem Zögern, »etwas anders als ihr.« Er verstummte. »Wir denken«, begann er nach einer Pause, während der er einen Grashalm in den Mund nahm und darauf herumkaute, »dass nicht die natura, also die Sonne, der Mond, die Sterne oder die Erde, die wir unter unseren Füßen haben, das Wichtigste ist, sondern die Kunst, ars.«
    Es entstand ein Schweigen. »Ars«, hatte Tristan gesagt, und das Wort war für Isolde neu. »Was ist das: ars?«, fragte sie gedehnt.
    Tristan setzte sich auf, noch immer den Grashalm im Mund. »Meine Lieder sind ars«, sagte er und fügte hinzu: »Und auch dieser Grashalm, wenn man daraus einen Goldfaden machen könnte.«
    Das verstand Isolde nicht, oder sie wollte es nicht verstehen. Verstimmt wandte sie sich von Tristan ab, überlegte und fragte auf Lateinisch: »Wer ist der Herrscher in

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