Tristan
nicht nach England, sondern auf die eruische Küste zu, Gorr ließ es treiben. Warum er diese Entscheidung getroffen hatte, wusste er nicht, aber er glaubte an den parmenischen König. Acht Tage solle Gorr auf ihn warten, hatte Tristan gesagt, und jetzt verstrich erst der fünfte Tag. Es blieb noch eine halbe Nacht bis zur Mitternachtsglocke.
Gorr hatte eine diebische Freude daran, dass die Barone unter Deck vermuteten, es ginge zurück zu ihren Familien und auf die Eiderdaunenkissen ihrer Betten. Andererseits war er selbst nicht sicher, wohin ihn die langsame Fahrt fuhren würde, wo genau der Hafen von Wexford lag. Der Tag war früh eingedunkelt, nun zogen Nebelschwaden auf, was für Gorr bedeutete, dass sie sich dem Land näherten. Die Mannschaft, die er um sich wusste, bestand nur aus ein paar Mannen. Feindlichen Angriffen wären sie schutzlos ausgesetzt. Unter Deck, das hörte er, hatte man wohl ein paar Flaschen lamegonischen Weins geöffnet. Die Barone feierten ihre Rückkehr und wähnten sich bereits in sicheren Gewässern.
Da rief einer der Schiffsjungen, steuerbord seien Lichter zu sehen. Tatsächlich waren dort Flammen von Fackeln, die über dem schwarzen Wasser auftauchten und wieder verschwanden, als würden sie verglimmen.
Gorr fuhr mit der Hand über seine vertränten Augen, sah den Lichtschein, hörte laute Rufe und erkannte die Stimmen der Ruderer, die Tristan an Land hatten bringen sollen. Noch verstand er nicht, was sie ihm sagen wollten, vernahm nur ein »Rüstet Euch!« oder »Legt Rüstungen an!«, und glaubte, dass gleich ein Angriff bevorstehe. Als aber nur das Boot das Schiff erreichte und ihm kein anderes folgte, fiel die Angst wie ein schwerer Stein von Gorrs Schultern. Die Bootsleute wurden an Bord gezogen und berichteten als Erstes, dass Tristan einen Drachen töten und dadurch die Prinzessin Isolde als Braut für König Marke gewinnen wolle. Gorr blieb der Mund offen stehen. »Legt das Steuer um!«, befahl er, ließ das Segel einholen und sah zu, wie der Parmenier an Deck in seine Kammer gebracht wurde. Kaum hatte sich Tristan ein wenig erholt und frisch angekleidet, ließ er nach Courvenal schicken. Gorr schärfte er ein, dass niemand von den Baronen oder ihren Knechten erfahren dürfe, dass er auf die Christina zurückgekehrt sei. Zugleich ordnete er an, ihn noch vor dem Morgengrauen zurück an Land zu bringen: diesmal auf einem größeren Boot zusammen mit seinem Pferd und seiner Ausrüstung. Doch auch davon dürfe niemand außer Courvenal etwas wissen.
Begegnungen ~ 231~ Der »Drache«
Courvenal war erstaunt und erleichtert zugleich, als er von einem der Schiffsjungen geweckt und an Deck gerufen wurde. Die Barone schliefen schon weinselig, er brauchte sich keine Mühe geben, besonders leise zu sein. Tristan lag auf der Koje in Gorrs Kabine, die mehr einem Verschlag glich als der Schiffskammer eines Kapitäns. Kaum betrat Courvenal den engen Raum am Bug des Schiffes, richtete sich Tristan freudestrahlend auf und empfing ihn mit den Worten: »Wir können es schaffen! Ich muss nur einen Drachen töten!«
Courvenal war zum Lachen zumute, als er diese Worte hörte. Doch er goss erst einmal Wein, den er aus dem Bestand der Barone mitgebracht hatte, in zwei Becher, setzte sich zu Tristan auf die Holzpritsche und forderte ihn auf zu erzählen. »Aber bitte von Anfang an«, fügte er lächelnd hinzu.
Tristan war gleich bei der Sache. Er schilderte, wie er sich von den Ruderern vor fünf Tagen hatte an Land bringen lassen. »Als wir uns dem Hafen näherten«, sagte er, »mussten sich die beiden unter Netzen im Boot verstecken. Ich zündete ein Lämpchen an, ließ das Boot auf die Kaimauer zutreiben, wo die Eruis ihre Stände haben, nahm die Harfe und spielte ihre Lieder. Es war alles ganz einfach. Die Leute dachten, ich bin ein fili und wolle sie unterhalten, um etwas zu essen zu bekommen. Irgendwann flog dann auch das erste Stück getrockneten Fleisches in unser Boot, und ich war akzeptiert. So stieg ich mit der Harfe aus, mischte mich unter das Volk, sang und spielte, und niemand bemerkte, dass mein Boot in der Zwischenzeit weitertrieb zum südlichen Ufer der Hafenanlage, wie ich es mit den Ruderern besprochen hatte. Ich erkannte alles wieder, Courvenal, ein Jahr lang hatte ich Zeit gehabt, mir die Hafenanlagen einzuprägen. Und das kam mir nun zugute.«
Tristan nahm einen Schluck aus seinem Becher, den letzten, wie er bemerkte, denn er müsse noch in dieser Nacht wieder
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