Tristan
Truchsess auf den Ästen der Ulme.
Marke war aufgebracht wie selten. »Wie konntest du nur …?«, fuhr er Marjodô an.
»Aber sie haben doch …«
»Gebetet haben sie - für mich! Was du nie tun würdest!«
»Verzeiht, mein Herr!« Marjodô klopfte sich die Kleider aus.
»Was soll ich dir verzeihen?« Marke wurde ungewöhnlich ernst. »Du streust Argwohn aus wie der Bauer das Korn. Ich weiß selbst, dass Ungewöhnliches am Hofe vor sich geht, aber ich weiß nicht, was. Ich habe nichts gegen meinen Neffen in der Hand. Er betet für mich mit meiner Frau, er hat die Sonnenanbeterin zum rechten Glauben gebracht. Dafür muss ich ihm dankbar sein. Bring mir Beweise, dass sie mit ihm Unkeusches tut, Beweise, nicht Vermutungen! Und jetzt scher dich zum Teufel, dem du so nahestehst!«
Mit diesen Worten entließ Marke Marjodô. Kilian brachte ihm sein Pferd und ritt ihm mit einer Fackel in der Hand voraus durch den dunklen Wald zum Lager der Jäger zurück, wo Marke unter Jojojohei-Rufen und mit Beifallklatschen begrüßt wurde. Die Nacht dauerte noch so lange, wie das Feuer brannte und der Morgen begann.
Das Gebet ~266~ Das Gefühl
Die Nacht unter der Ulme war für Tristan und Isolde wie eine Begegnung mit Gespenstern gewesen. Durch die Rindenschnipsel hatte Tristan Brangaenes Botschaft erkannt, die Königin sei an Ort und Stelle. Er trug wieder, um sich zwischen den Birken verstecken zu können, sein hell und dunkel geschecktes Hemd aus Ziegen- und Rindlederstücken und war schnell durch den Wald gelaufen, den Bachlauf hinauf. Kurz bevor er an den Waldrand trat, brach das Mondlicht durch die Wolken. Er sah Isolde nahe bei der Ulme, so wie er sich eine Elfe in seinen Träumen vorstellte. Ihr helles Gewand leuchtete, über ihr Gesicht floss ein weißer Schimmer, und gerade legte sie mit einer unnachahmlich anmutigen Bewegung ihre Kapuze über den Kopf, da bemerkte er auf dem Blättergrund Schatten, die sich bewegten und wie Zeichen wirkten, als solle er gewarnt werden. Als er genauer hinschaute, erkannte er zwei Gestalten mit merkwürdigem Aussehen. Zuerst dachte er an Luchse oder Bären, die sich auf dem Baum versteckt hielten, bis er den Umriss eines Armes sah, der sich ausstreckte. Sogleich ahnte er, dass sie beobachtet wurden, wagte nicht den Blick nach oben, sondern ging auf Isolde zu, beugte gleich seine Knie und begann zu beten.
Die junge Frau verstand nicht, warum sich ihr Geliebter so ungewöhnlich verhielt, kniete aber ebenso nieder. Als Tristan begann, Psalmen für Markes Heil und Jägerglück gegen den Himmel zu senden, wurde ihr deutlich, dass etwas nicht stimmte. Verstohlen blickte sie um sich, konnte aber nichts anderes erkennen als Silhouetten, die Bäume und Sträucher im hellen Mondlicht auf die Erde warfen. Tristan beachtete sie nicht, sondern stieß wie in sich versunken seine Fürbitte hervor:
Dem Himmel sei Dank
Dass Marke, den wir lieben,
Weder tot ist noch krank,
Kein Opfer von Dieben,
Gleichwohl er immer über uns sei
Seinen gütigen Schatten uns spendet,
Unglück in Glück umwendet -
Im Namen des Antonius
Sei er stets unser Patronius.
Wohl ein halbes Dutzend Mal sagte Tristan diese Verse auf. Erst fragte sich Isolde, was denn in ihn gefahren sei, und wollte lachen, bis sie zu verstehen begann und schließlich im Licht des Mondscheins die Schemen zweier Gestalten auf dem Waldboden sah - sie wurden belauert! Als sie diese Entdeckung machte, hätte sie aufjauchzen und Tristan umarmen wollen. Wie umsichtig und aufmerksam er doch war! Sie fiel erst in seine Gebete ein und stahl sich dann mit einer scheinheiligen Verbeugung davon, ohne ihn ein einziges Mal direkt anzusehen. Gleichwohl hatte sie das innige Gefühl, seine Gegenwart mit sich fortzutragen, als sie schon längst mit Brangaene auf dem Weg zur Burg war.
Jagdgebrüll ~267~ Geflüster
Merkwürdig verhuschte Verbeugungen, blicklose Grüße, leises Tuscheln empfingen Marke, als er von der Jagd zurückgekehrt war - nicht nur vonseiten seiner Dienstleute, sondern auch von Baronen und Gästen, die wie zufällig auf Tintajol auftauchten, um nach kurzweiliger Aufwartung wieder zu verschwinden.
Isolde verhielt sich ihm gegenüber freundlich wie immer, Tristan fragte mit Neugier nach dem Umfang der Jagdstrecke und staunte gebührend über das viele Wild, das die Truppe eingebracht hatte. An einem der ersten gemeinsamen Abende saß er mit Marke und einigen Jägern zusammen, hörte sich ihre Geschichten an und trank, wie
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