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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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ihn springen sah, konnte sie gerade noch einen Schrei unterdrücken. Kein anderer hätte es geschafft, diesen Abstand von Lager zu Lager zu überwinden. Und kaum setzten Tristans Füße auf ihrem Bettrand auf, griff sie nach seinen Händen, zog ihn zu sich hinunter, schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Erzähl mir mehr von der schönen Wessely mit den Augen aus Eis.«
    An diesem Nachmittag liebten sie sich heftiger als sonst und konnten kein Ende finden. Bis Isolde Tristan drängte, auf sein Lager zurückzukehren. Er musste noch einmal springen, so ermattet er auch war. Danach verließen sie jeder für sich durch eine andere Tür den Raum. Ein wenig spät trafen sie in dem Esssaal ein und machten keinen Hehl aus ihrer Gemeinsamkeit.
    Marke, inzwischen in Melôts List eingeweiht, eilte gleich, nachdem Isolde und Tristan zum Essen aufgetaucht waren, zusammen mit Marjodô in den Saal. Auf beiden Seiten der Betten fanden sie Fußabtritte, doch keine einzige zwischen ihnen. Dass Tristan den Abstand zwischen den Lagern hätte überspringen können, hielten beide für unmöglich.
    Marke fühlte sich erneut genarrt. Er schickte Marjodô weg und wollte ihn in den nächsten Tagen nicht sehen. Als er in den Saal zurückkam, sah er Isolde und Tristan nebeneinandersitzen.
    Mit lachenden Gesichtern sahen sie zu ihm auf, als er vor ihnen stand, blass und bleich vor Eifersucht und tödlich beleidigt. Tristan rückte ein wenig von Isolde ab und schwieg, sie aber lachte weiter und schien die Situation nicht zu erfassen. Bis Marke sagte:
    »Ihr treibt es hinter meinem Rücken. Aber mein Rücken ist breiter, als ihr denkt. Ich werde in Londres ein Konzil einberufen und vom Bischof die Ausführung eines Gottesurteils verlangen. Dann wird sich die Wahrheit herausstellen, die ihr nicht fähig seid einzugestehen.«
    Im Saal fiel danach kein einziges Wort mehr. Alle, der König, die Ritter, die Burgfrauen und ihre Zofen standen auf und entfernten sich. Nur Isolde und Tristan blieben zurück.
    Tristan verharrte reglos. Isolde spürte die Bedrohung, konnte aber nichts mit dem Wort »Gottesurteil« anfangen. »Was soll das sein?«, flüsterte sie.
    Es dauerte eine Weile, bis Tristan fähig war, zu ihr zu sprechen. »Du musst einen Schwur sprechen und ein glühendes Eisen in die Hand nehmen«, sagte er und schluckte. »Wenn du dich verbrennst und die Wunde nicht innerhalb von drei Tagen geheilt ist, hat Gott entschieden, dass du den Schwur gebrochen hast. Du bist schuldig vor Gott und deinen Herrschern, die seine Diener sind. Man verstößt dich, man verstößt mich. Wir verlieren all unsere Rechte, wir sind vogelfrei, jeder kann uns heimtückisch töten, wir haben nichts zu verlieren, nicht einmal unser Leben, weil wir es längst nicht mehr besitzen.«
    Tristan begann, hemmungslos zu weinen. Isolde ließ sich davon anstecken, spürte seinen Schmerz, der auch zu ihrem wurde. Allmählich fing sie an, die Worte zu begreifen. Wie konnte ein Gott ein Urteil sprechen durch ein glühendes Eisen? Gab es denn eine andere Möglichkeit, als sich daran zu verbrennen? Es kam einem Todesurteil gleich, das zu fällen Marke und der Bischof dem Feuer überließen, ein Element der Erde und die Seele der Sonne. Was hatte das alles mit ihnen zu tun? Isolde war verzweifelt, weil sie den Sinn des Ganzen nicht erfassen konnte.
    »Was hat das Gottesurteil mit uns zu tun?«, fragte sie Tristan schluchzend. »Was soll es unserer Liebe anhaben können? Sie ist doch selbst wie eine nie erlöschende Flamme. Also müssen wir Feuer mit Feuer bekämpfen.«
    Sie weinten über die Schmach, die ihnen angetan wurde. Vor allem aber hatten sie Angst vor dem Tod, der sie trennen könnte. Denn mehr bedeutete das Wort »Gottesurteil« nicht. Es drückte die Willkür der Herrschenden aus. »Wer über andere herrscht«, flüsterte Isolde Tristan ins Ohr, »kann selbst schnell beherrscht werden. - Das habe ich von dir gelernt, mein lieber Freund, mein freundlich Liebender. Erinnerst du dich noch daran? Es sind die Worte eines romanischen Kaisers, die ich aufschreiben musste, als du auf Erui warst, mein Spielmann und Lehrer, Tristan der Tantris.«
    Tristan nahm Isolde zärtlich in seine Arme. Ihre Worte waren eine Wohltat für ihn. Er dachte an seinen Oheim. »Marke«, sagte er leise zu Isolde, bevor sie sich an diesem Tag trennten, »ist ein guter Mann. Er tut nur seine Pflicht, er beansprucht sein Recht. Verletzte Herzen kann niemand kurieren. Wir haben verloren, weil wir

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