Tristan
zugezogen war. Er ging zu einem kleinen Tisch, fand dort die Kette, blieb stehen, hielt den Atem an und lauschte. Alles war still. Als er genauer auf den Vorhang blickte, glaubte er, es hätten sich in ihm Schatten verfangen, die sich bewegten, obwohl das Tuch starr über der Leine hing.
Da wusste er, was dahinter vor sich ging. Er verließ rasch den Saal, suchte Tristan in dem Gemach, in dem man sich sonst zum gemeinsamen Essen einfand, dort war er nicht und auch nicht in ihrer Kemenate. Er legte sich ins Bett und wartete. Als Tristan schließlich kam, tat Marjodô so, als würde er fest schlafen.
Tristan hörte ihn schnarchen. Er fühlte sich völlig ermattet und zugleich hellwach. Er schlich zum Wasserbottich, bei dem ein Lämpchen stand. Dort sah er, dass er aus der Wunde am Oberarm blutete. Er musste den Verband wechseln, hatte aber keine Binden. Mit dem Dolch schlitzte er den Stoff eines gewebten Hemdes auf, riss ihn so leise wie möglich in Streifen und hielt dabei die Luft an. Als er versuchte, sich mit der freien Hand einen neuen Verband anzulegen und es ihm wiederholt misslang, hielt er den Stofffetzen mit den Zähnen fest und machte mit der Hand einen Knoten. Der Verband hielt. Beruhigt legte er sich hin.
Da Tristan begierig war, Isolde zu treffen, stand er früh auf und war als Erster beim Morgengebet in der Kapelle. Marjodô, schon immer etwas nachlässiger im Umgang mit den Ritualen der Kirche, erschien diesmal gar nicht zur Messe. Er traf sich mit Melôt und schilderte ihm die Lage.
»Versteh doch, Melôt«, sagte er zu ihm auf einer Bank in Tristans Garten, wie er den kleinen, an die Schlafgemächer angrenzenden Park inzwischen nannte, »er führt uns alle an der Nase herum. Doch wie soll man ihn erwischen? Der Raum zum Aderlassen ist hier allen heilig. Marke würde niemals in ihn eindringen und den Vorhang vor Isoldes Bett herunterreißen! Tristan schildert endlos lang seine nichtssagenden Reiseerlebnisse, bis alle sie satt haben. Erst gestern schwärmte er von den Felsen von Glumshore, die nicht einmal er übersteigen konnte und die niemand kennt. Wenn er nicht mehr weiter weiß, beschreibt er das Zwitschern der Spatzen oder wie der Farn sein Blatt ausringelt, als hätte er einen Monat lang danebengestanden, um dabei zuzusehen, was die Pflanzen so treiben. Es ist unerträglich. Alle fliehen, nur eine bleibt: Isolde. Sie hört nicht seinen Worten zu, sie will nur seine Stimme, sie will ihn! Und kaum sind wir alle fort, steigt er in ihr Bett!«
Melôt sprang von der Bank. Er mochte das Sitzen auf Stühlen oder Bänken nicht, weil seine Füße dabei nie den Boden berührten. Marjodô wollte ebenfalls aufstehen, aber Melôt gab ihm zu verstehen, dort zu bleiben, wo er war. Er verschränkte seine kurzen Arme hinter dem Rücken und schritt wie ein Huhn einige Male vor Marjodô auf und ab.
Plötzlich blieb er stehen. »Ich hab’s, Bruder!«, sagte er verschlagen grinsend.
»Ich bin nicht dein Bruder!«
»Dann hab ich’s eben nicht!« Melôt drehte eine Schleife, als wolle er sich entfernen.
»Bleib, bleib - Bruder!« Der Truchsess würgte das Wort aus sich heraus. Er verspürte Hunger. Auf die Andacht konnte er verzichten, aber das Morgenmahl wollte er sich nicht entgehen lassen, da er ja gleich wieder Schalen voll Blut verlieren würde. »Sag, was du hast!«
»Schnee!«
Marjodô verstand nicht. »Warst du schon mal da drin?«, fragte er und wies mit dem Arm hinter sich. »Da wird geheizt wie in der Hölle. Zwei Kamine, jede dritte Elle eine Fackel an der Wand, an jedem Bett vier Öllämpchen! Deshalb machen sie das doch alles nur: Um es mal richtig warm zu haben, sich vollzufressen und es miteinander zu treiben, geschwächt wie sie sind. Und der Bader scheffelt die Münzen!«
»Schnee«, sagte Melôt noch einmal und blieb vor seinem vermeintlichen Bruder stehen. »Was sieht aus wie Schnee?«
Marjodô war zu aufgeregt, und sein Magen knurrte zu laut, um sich bei Rätseln aufzuhalten: »Sag’s mir!«
»Sag mir erst, was ich dafür bekomme.«
Marjodô fasste sich an den Kopf. In einem Säckel hatte er noch zwölf Silberlinge. »Sechs dänische Groschen!«, sagte er. »Mehr hab ich nicht.«
»Acht!«
»Gut - acht. Aber jetzt sag’s schon. Und wenn’s nicht klappt, zahlst du mir die Hälfte von dem, was ich dir biete. Abgemacht? Oder du bist weg vom Hof!«
Der letzte Aderlass ~ 271 ~ Mehl statt Schnee
Marjodö erwischte noch ein wenig vom Essen, wurde aber vom Bader gemahnt, er
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