Tristan
gar nicht weg gewesen sei. Kaum hatte er Conoêl durch den geheimen Austritt verlassen, lief er wie ein junger Hund davon und suchte das Meer. Im Laufen tanzte er, sang Lieder, begrüßte die Bäume, indem er ihnen Namen gab, strauchelte, fiel, richtete sich auf, lief weiter, verlief sich, doch das machte ihm nichts aus in der Freiheit, die er fühlte, nachdem er Yella abgeschüttelt hatte. Auf diese Weise kam er hinter einem Kiefernhain an eine Klippe, die er bislang nicht gekannt hatte.
Er stand still, schaute aufs Meer, noch immer sein Meer, da gab es keinen Zweifel. Aber wo war er? Unter ihm, jenseits der Böschung und der Felsen, gab es einen Strand. Er sah eine Gestalt. Sie hatte ein langes Hemd an. Es musste also ein Mädchen sein. Solche Hemden trugen die Mägde in der Burg ganz früh morgens, wenn es noch dunkel war. Er sah, wie die Gestalt zum Land zurücklief und verschwand. Das Meer und der Strand lagen nun wieder einsam und verlassen da. Die Wellen rauschten heran und zogen sich zurück. Je länger Tristan auf dieses Spiel schaute, weil es sonst nichts zu sehen gab, desto mehr verschwand die Gestalt aus seiner Erinnerung. Er zweifelte. Vielleicht war es auch nur ein großer Vogel gewesen, den er gesehen hatte. Oder ein Meerlöwe, der aus dem Meer gekommen und wieder darin verschwunden war. Von solchen Wesen hatte man ihm erzählt, auch dass sie sich manchmal in Menschen verwandelten.
Tristan rieb sich die Augen. Es war noch nicht Mittag, er hatte den ganzen Tag Zeit. Er wollte weiter Speerwerfen und Pfeilschießen üben, das er schon besser konnte als alle anderen Jungen auf Conoêl. An seinem Strand Hegennis hatte er sich mehrere Zielscheiben aufgebaut und in einer Felsennische ein Lager mit Speeren und Pfeilen eingerichtet. Er hatte zwei Bögen aus der Burg geschmuggelt und sich sogar einen Vorrat an Brot und Wasser angelegt.
Wo aber war Hegennis an diesem Morgen, in welcher Richtung musste er die Küste entlanggehen, um zu seiner Bucht zu gelangen? Am besten laufe ich hinunter ans Meer, dachte er. Das wird der kürzeste Weg sein.
Tristan war so übermütig an diesem Tag, dass er seinen Speer im großen Bogen von der Klippe hinabschleuderte. Mitten in dem fremden Strandstück sah er ihn auftreffen. Dieser Speer war sein erstes Ziel. Rasch suchte er einen Weg durch die Felsen nach unten, kroch auf allen vieren, kletterte und schürfte sich die Hände auf - schließlich sprang er vom letzten rauen Stein in den dunklen Sand, blickte zurück zur Felswand, um sich zu vergewissern, woher er gekommen war, wandte sich um und rannte auf das Meer zu. Auf halbem Weg merkte er, dass sein Speer verschwunden war. Dort, wo er hätte stecken müssen, fand er schließlich ein Loch im Boden, glaubte Augenblicke lang sogar, dass der Speer vielleicht ganz in der Erde verschwunden war, bis er um das Loch herum Fußabdrücke entdeckte. Er richtete sich auf und schaute sich um.
Als Tristan das Mädchen erblickte, das nicht weit von ihm bei den Felsen stand, erschrak er nicht, er fühlte sich nur plötzlich schutzlos und beunruhigt. Das Mädchen - sie hatte lange Haare, und das Hemd reichte ihr bis zu den Füßen - hielt seinen Speer in der Hand. Sie drohte ihm nicht damit, aber sie hätte ihn jederzeit auf ihn werfen können. Denn genau so hielt sie den Speer: mit der Spitze nach vorn, den Arm angewinkelt, die Hand in Schulterhöhe. Wenn sie eine Speerwerferin ist, schoss es Tristan durch den Kopf, und er hörte wie in einem Echo seine Gedanken: Wie ich einer bin! - dann kann sie mich jetzt treffen. Er verwunderte sich, dass er eine Zielscheibe sein könnte, während er es doch bisher immer gewesen war, der auf Zielscheiben warf. Die fliehenden Hasen kamen ihm vor Augen, die er getroffen hatte, einen sogar mitten im Sprung. Auch ihm war es unmöglich zu fliehen. Wohin denn? Ins Meer - er würde darin untergehen. Am Meer entlang? Auf die Felsen zu? - Es gab keinen Ausweg. Tristan konnte nichts anderes tun, als aufzugeben. Er setzte sich hin, direkt neben das Loch, das sein von der Klippe geworfener Speer in den Sand gebohrt hatte. Da ließ das Mädchen den Speer sinken und kam auf ihn zu. Sie hieß Ortie.
»Mouder« ~68~ Der Gestank
Sie kam langsam auf ihn zu, schleichend fast, und sich niederbeugend gab sie ihm seinen Speer zurück. Er umfasste den Stab an der Spitze, sie hielt den Schaft fest. Dabei blickte sie Tristan in die Augen. Er riss an dem Stab, aber sie ließ ihn nicht los. Das Mädchen stand vor
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