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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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ihm, das lange Hemd flatterte ihr um die Beine, der Wind wirbelte es hoch, Tristan sah die Füße, abgebrochene Fußnägel, schwarz-schmutzige Knöchel. Er blickte an dem Mädchen auf, sah ihr verklebtes Haar, bittende Augen und ein Gesicht, das lange nicht gewaschen worden war. Die Nasenlöcher schienen verklebt, am Kinn hingen Speichelfäden. Wie kann, dachte Tristan, ein Gesicht so verdreckt sein, wenn einen Steinwurf entfernt das Meer voller Wasser ist? Wieder zog er am Speer, und das Mädchen gab ihn frei. Tristan stand auf. Gleichzeitig, als hätten sie es für ein Krippenspiel in der Kirche eingeübt, fiel das Mädchen auf die Knie. Tristan stand vor ihr, den Speer nun umgedreht in der Hand, die Spitze zeigte auf sie. »Wie heißt du?«, fragte er. »Ortie«, verstand er.
    »Was machst du hier?«, war seine nächste Frage. Sie antwortete nicht darauf oder schien sie nicht gehört zu haben. Stattdessen sprach sie leise und starrte dabei in den Sand vor seinen nackten Füßen, als sei dort etwas, auf das sie ihn hinweisen wollte. Tristan konnte dort nichts erblicken.
    »Mouder«, sagte sie und wies mit einer Hand hinter sich.
    »Was ist mit deiner Mutter?«
    »Stenert.«
    »Was heißt das?«
    »Stenert.«
    »Wie ein Stein?«
    Das Mädchen nickte.
    »Sie kann sich nicht bewegen?«
    Das Mädchen nickte wieder, aber heftiger.
    »Steh auf«, sagte Tristan. »Fuhr mich zu ihr.« Da Ortie ihn nicht zu verstehen schien, ergänzte er: »Wir gehen zu deiner Mouder. Komm, gib mir deine Hand.« Er streckte ihr seine entgegen.
    Diese Geste verstand sie, ergriff aber nicht seine Hand, sondern ging voran auf die Felsen zu. Tristan stapfte durch den Sand hinter ihr her. Bei den Felsen hielt das Mädchen an und zeigte nach oben. Außer ein paar Stöcken, die an die Wand gelehnt waren, konnte er nichts Besonderes entdecken. Mithilfe der Stöcke hangelte sich das Mädchen nach oben von Vorsprung zu Vorsprung. Sie war geübt darin, Tristan hatte Mühe, ihr zu folgen. Schließlich kamen sie auf einem großen, aus dem Felsen herausragenden Stein an, und Ortie sagte wieder: »Mouder!« Sie blieb stehen und bedeutete Tristan, er solle an ihr vorbeigehen. Dabei roch er sie, er roch den Gestank, den sie ausströmte, sie oder ihr Hemd. Am liebsten hätte er sie von dem Felsen gestoßen, um diesen Gestank loszuwerden. Doch dann blickte er in eine hinter dem Felsvorsprung sich auftuende Nische, eine Höhle fast. Dort lag die Mutter. Sie war längst tot. Ihr Körper war ausgezehrt, die Haut um die Knochen war grün, blau und violett, das Gesicht bis auf den Schädelknochen eingeschrumpft. Vor der Toten lagen stinkende tote Fische, die diesen entsetzlichen Geruch verbreiteten.
    »Wie kannst du nur?«, sagte Tristan und wandte sich ab.
    »Mouder will nicht essen«, sagte das Mädchen. »Helfen. Schnell. Du!«
    Tristan wollte sagen: »Ich kann nicht.« Da würgte es ihn. Der Gestank schnürte ihm die Kehle zu, er wandte sich ab und sagte nach einer Weile: »Tristan kann nicht.« - Mit einem Mal war wieder diese Hemmung in seinem Kopf. Er konnte nicht »ich« sagen.
    Aber das Mädchen strahlte ihn an. »Du Tristan?«
    Er nickte. Wieder stach ihm der widerliche Gestank in die Nase.
    »Mouder sagt, du bist Königssohn.« - Das Mädchen trat näher an ihn heran.
    Tristan hörte nicht auf das, was sie sagte. Er überlegte, wie sie diese toten Fische und den Leichnam wegschaffen könnten. Ins Meer, dachte er. Es muss alles ins Meer. Er blickte sich um. Da waren ein paar dürre Sträucher, an einigen Ästen hingen noch Blätter. Die rupfte Tristan ab und steckte sie sich in die Nasenlöcher. Mit zusammengekniffenen Augen ging er ein paar Schritte in die Höhle hinein, packte die verfaulten Fische, trug sie nach draußen und warf sie über die Felsen hinunter. Er nahm alles, was herumlag, Kleiderreste, einen Korb, eine Decke aus Schafsfell, die voll von eingetrocknetem Kot war, alles warf er über den Felsvorsprung nach unten.
    Zum Schluss näherte er sich der Mutter. Er rutschte auf Knien an sie heran, kniff wieder die Augen zusammen, weil er nicht wusste, wo er dieses Gerippe anfassen sollte. Schließlich überwand er sich, fasste den Kopf an und zog daran, bis der Leichnam seinem Zerren folgte und sich über den steinigen Grund zum Rand des Felsvorsprungs schleifen ließ. Tristan setzte sich, gab mit seinen Füßen den Knochen einen Stoß, und der Leichnam fiel in den Abgrund.
    Ortie schrie auf. Tristan hatte nicht mehr daran gedacht, dass das

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