Triumph des Himmels: Historischer Roman (German Edition)
Kinderärztin niederlassen, aber die Praxis ihrer Partnerin befand sich noch im Aufbau. Doktor Friedensreich war eine energische junge Frau von, wie ich fand, einiger Kompetenz.
»So ein hoher Sturz wird schwerwiegende Folgen haben, Fräulein Schneider, aber die genaue Diagnose wird man nur im Krankenhaus bei einer Röntgenuntersuchung stellen können. Wenn Sie möchten, bleibe ich bei dem Gespräch dabei und übersetze Ihnen das Kauderwelsch der Mediziner.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Und es war sehr nützlich.
Das Krankenhaus meldete sich nach einer halben Stunde, und zunächst einmal gab es ein gewisses Durcheinander. Die Sanitäter, die Geraldine eingeliefert hatten, hatten ihren Namen falsch verstanden, und sie selbst verweigerte jegliche Auskunft. Ich stellte mich auf Doktor Friedensreichs Rat als Geraldines Schwägerin vor und bekam tatsächlich den behandelnden Arzt zu sprechen. Er war dankbar, dass ich ihm einige persönliche Daten und vor allem die Adresse ihrer Eltern mitteilen konnte. Dann aber wurde er sehr medizinisch. Vielleicht, um mir die wirklich schlimme Diagnose nicht allzu deutlich vor Augen zu führen. Aber ich brauchte nicht einmal die Übersetzung der jungen Ärztin neben mir, um zu begreifen, dass Gerry derzeit vom Hals ab gelähmt war. Es gab aber eine gewisse Hoffnung, dass sie den Gebrauch ihrer Arme nach einer Weile wiedererlangen könnte.
Trotzdem, das Urteil war schlimm genug. Gefesselt an den Rollstuhl würde sie nie mehr Shimmy tanzen, nie mehr Divas fotografieren, nie mehr Schaufensterbummel machen. Gleichgültig, welche Schwierigkeiten sie mir gemacht hatte, das hatte Geraldine nicht verdient. Als das Telefonat beendet war, seufzte ich tief auf.
»Sie hat den Tod gewählt, und er hat sich ihr verweigert«, sagte Doktor Friedensreich. »Der Tod ist immer gemein, so oder so.«
»Sie muss viele Jahre lang verzweifelt gewesen sein, aber niemand hat es bemerkt. Und ich habe nicht einmal mitbekommen, dass sie regelmäßig Kokain genommen hat. Sie war launisch, manchmal aufgedreht, oft oberflächlich.«
»Warum ist sie von der Staumauer gesprungen? Wissen Sie das?«
»Aus vielerlei Gründen, denke ich. Sie hat im Krieg ihren Geliebten verloren. Er wurde als Verräter hingerichtet. Dieser Geliebte war mein Verlobter. Und ihr Bruder.«
»Verlust und Schmerz auf vielen Ebenen – der Mensch will überleben und drängt diese Erlebnisse aus seinem Bewusstsein. Aber die Seele vergisst nicht. Manche entwickeln körperliche Symptome, deren Ursache kein Arzt ergründen, geschweige denn heilen kann. Andere entwickeln Tics oder Wahnvorstellungen oder unerklärliche Ängste. Im Fall Ihrer Freundin muss vor allem das Schuldbewusstsein der verbotenen Beziehung zusätzlich belastend gewesen sein. Es wäre besser gewesen, sie hätte darüber mit einer Vertrauensperson reden können.«
»Ja, das wäre ihr möglicherweise eine Hilfe gewesen. Aber ich beispielsweise hätte wenig Verständnis dafür gehabt.«
»Sie sind ja auch keine Heilige, sondern eine Betroffene. Die Lehre von der Seele, die Psychologie, wird noch immer nicht wirklich ernst genommen. Aber gerade bei Kindern, Fräulein Schneider, merke ich, dass man mit derartigen Kenntnissen viel Leid vermeiden kann, das später dem erwachsenen Menschen das Leben erschwert.«
Mir fiel Waldgruber junior ein, der sich auch mit der Seelenkunde befasst hatte.
»Sie haben auch bei Doktor Freud gehört?«
»Ich? Bei dem Dilettanten? Der uns Frauen unterstellt, wir würden mit der Gebärmutter denken und den Männern ihren Schniedel neiden?«
»Hui!«
»Ich kann mich nur darüber aufregen.«
»Das merke ich.« Und mir fiel plötzlich der Vatermörder Thalheimer ein.
»Wenn Sie sich da auskennen, Frau Doktor, dann wissen Sie sicher auch, was ein Vatermord-Syndrom ist.«
Sie sah mich verdutzt an.
»Nie gehört.«
»Es gibt da jemanden, der wegen dieses Syndroms wehrdienstuntauglich gestellt wurde.«
»Na ja, Ärzte machen alle möglichen Dinge. Mhm. Könnte was mit dem Ödipuskomplex zu tun haben. Ist auch so eine Theorie. Ein Junge betrachtet seinen Vater als Konkurrenten um die Liebe seiner Mutter und will ihn aus dem Weg räumen. Da ein Sohn – wie in der Ödipussage beschrieben – seinen Vater umbringt und die Mutter heiratet, ist er zum Verderben verurteilt. Also verhindert der Vater das, indem er das Begehren der Mutter unter Strafe stellt und ihm droht, ihn zu kastrieren.«
»Himmel.«
»Archaisch, nicht? Ich glaube
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