Trix Solier - Odysee im Orient - Lukianenko, S: Trix Solier - Odysee im Orient - xx
Bilder begaffen. Verwandlung, echte Gefühle und überbrodelnde Emotionen – das macht Theater aus!«
»Nein, nein und noch mal nein!«, ereiferte sich Maichel. »Die Kunst muss realistisch sein, dem Leben nachempfunden. Wenn eine Szene auf einem Schiff spielt, muss auf der Bühne Wasser spritzen! Wenn sie in der Wüste spielt, muss Sand her! Wenn die Schauspieler auf der Bühne essen, dürfen sie nicht in Früchte aus Pappmaché beißen.«
»Beim letzten Punkt stimme ich völlig mit dir überein.«
Die größten Probleme bereiteten ihnen jedoch Ernek und Bertek. Maichels Neffen verstanden nämlich erst jetzt, dass einer von ihnen die Prinzessin Tiana geben musste.
»Ich spiele kein Mädchen!«, stellte Ernek, der ältere der beiden Brüder, klar.
»Und ich auch nicht!«, fiepte Bertek. »Ich bin der Kleinste, ich spiele Hallenberry!«
Maichel, der sich bis eben die Haare ausgerissen hatte, stellte diese Beschäftigung ein. Und ging zum Bart über. »Ernek!«, beschwor er seinen Neffen. »Das Leben eines Schauspielers ist eine endlose Kette von Verwandlungen! Gestern hast du Trix gespielt, heute spielst du die Fürstin Tiana und morgen … morgen gibst du den Vitamanten Gavar!«
»Ich spiele kein Mädchen!«, bockte Ernek. »Wenn ich Mädchenkleider anziehen muss, wer weiß, ob sich das am Ende nicht verheerend auf meinen Reifeprozess auswirkt!«
»Im Prinzip magst du da recht haben.« Maichel hüstelte. »Aber die Schauspielerei … verlangt unbedingte Selbstaufopferung. Stell dir vor, ich habe sogar einmal eine junge Zwergin gespielt!«
»Wirklich?«, fragte Ernek.
»Ja. Wir gaben damals Wenn die Großmama der Großpapa wäre oder Die Zwergenlagune. Ich war der Einzige, dessen Bart taugte, um eine echte Zwergin zu spielen.«
Das ließ sich Ernek durch den Kopf gehen. »Eine Zwergin«, befand er schließlich, »ist nicht so schlimm.«
»Abgesehen davon haben Schauspieler eine weise Regel«, legte Maichel nach. »Sie lautet: Ein Mal ist kein Mal. Schlüpft ein Schauspieler einmal in eine Rolle, legt er sich keinesfalls fest. Und du sollst ja nur ein einziges Mal die Tiana geben!«
Ernek seufzte.
»Außerdem erhältst du einen Anteil vom Gewinn.«
»Einen Anteil?«, hakte Ernek nach. »Nicht nur was zu futtern und Ausbildung? Wie hoch ist dieser Anteil?«
»Ein halbes Prozent«, sagte Maichel.
»Ein ganzes – und die Sache ist geritzt«, feilschte Ernek. »Dafür kriegt ihr auch eine Tiana, da werden euch die Augen übergehen!«
»Aber, aber, wir wollen doch nicht übertreiben!«
Als es dämmerte, hatten die Schauspieler sich geschminkt und die Kostüme angelegt. Mit Trix, Ian und Gavar im Ensemble musste die Besetzung völlig umgekrempelt werden, so dass jeder sich selbst spielte und nur Ernek die Rolle der Tiana, Bertek die Hallenberrys übernahm. Trotz Erneks hochtrabender Ankündigung überzeugte er Trix als Tiana nicht, auch wenn er sich eine Perücke aufgesetzt und die Lippen rot bemalt hatte sowie ein weißes Kleid mit blauen Tupfen trug. Trix kaufte ihm das Mädchen einfach nicht ab. Vielleicht lag das an der schlaksigen Figur (Ernek hatte es strikt abgelehnt, sich etwas unter die Kleidung zu stopfen), vielleicht an dem überm Ausschnitt hervorspringenden Adamsapfel oder den unterm Kleid hervorlugenden behaarten Beinen.
Doch von den Zuschauern in den ersten Reihen abgesehen, dürften diese Feinheiten wohl kaum jemanden auffallen. Die meisten konnten letzten Endes kaum mehr sehen als die Umrisse der Bühne und die über sie stapfenden Schauspieler.
»Dann lasst uns das Spiel beginnen, meine Herren Komödianten.« Maichels Stirn glänzte vor Schweiß, als er mit einer brennenden Fackel in der Hand hinter der Kulisse hervortrat. Die Zuschauer begrüßten ihn mit wohlwollendem Johlen.
Maichel zündete feierlich die Lampen und Fackeln auf der Bühne an, die das Geschehen beleuchten sollten. Schließlich trat er an den Bühnenrand, um zu deklamieren: »Hochverehrtes Publikum! Größter der großen Zauberer aller Zeiten und aller Völker, ruhmreicher Abrakadasab! Ihr treuen Gehilfen und Vasallen des Mineralisierten Propheten! Ihr kühnen Soldaten! Wir werden Euch nun ein Stück mit dem Titel Heldentaten der Liebe oder Die abenteuerlichen Fahrten des jungen Magiers darbringen. Zweihundertneunundneunzig Mal ist es bereits mit glänzendem Erfolg auf den Bühnen des Königreichs, in Samarschan, in den Bergen des Nordens und auf den Kristallenen Inseln gegeben worden!«
»Was?«, zischte Gavar,
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