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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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schmutzige Icko, dieser abgerissene erbärmliche Straßenjunge, den die Mutter mit letzter Kraft im Treppenhaus abgepaßt und am Schlafittchen gepackt hatte, um ihn mit fünf Rubel zur Kotusova zu schicken, schon als Icko vor ihrer Tür stand, verlor die Hebamme die Kontrolle. Getrunken hatte sie und wollte sich endlich mit dem als Putzmittel so zuverlässigen Ammoniak vom Elend ihrer Ehe reinigen. Dabei hatte sie die Gläser verwechselt. Beinahe wäre so die Geburt des Baumeisters vermasselt worden. Icko trug seinen Auftrag und den Umschlag mit den fünf Rubel mehr aus Angst als aus wirklicher Ehrlichkeit zur Kotusova. Auch die zwanzig Kopeken, die er für seinen Kurierdienst erhielt, waren fast nebensächlich für ihn. Er wollte einfach nicht schuld daran sein, daß diese Frau platzte.
       Nun, sie platzte nicht, wie wir wissen. Der elende Icko, rettender Bote des Auftrages und Überbringer des Hebammenlohnes, und die Kotusova, mit Ammoniak vergiftet, die noch in der Nacht der Geburt barfüßig, nur mit ihrem Unterrock bekleidet über die Straße tanzte – ihnen verdankte der Knabe seine Geburt.
       Einem dritten Menschen aber, einem alten Mann (der sich diese Rolle nicht ausgesucht hatte), verdankte T. L. sein Leben.
      
      
       An Jom Kippur hallte Gepolter durch das Treppenhaus der Stummstraße 9. Rabbi Birnbaum, der zwei Tage mit heftigem Fieber zu Bett gelegen und das Kol nidre versäumt hatte, war es, der hungrig, durstig und ungewaschen, wie es das Gesetz verlangte, und natürlich barfüßig durch die Flure gestolpert kam und seinen unheiligen Zorn über das Kribbeln, Stechen und Jucken an seinen Füßen in diesem Haus, das auch am höchsten Feiertag nicht sauberer war als sonst, durch ein besonders eindringliches Klopfen an die Türen seiner Mitbewohner wettmachte.
       »Frenkel Libman, vergib mir, daß ich dich wegen deiner Gefühle für die Handelsschülerin Sonka ausgelacht habe, nur weil du schon über sechzig bist. Es war nicht so gemeint. Genauso wie die Bemerkung über deinen Vetter Leibke in Nicolaiev, soll er doch weiterhin bei Gewitter unter dem Tisch schlafen, gleichgültig, was die anderen sagen. Verzeih mir!«
       Auch die nächsten Türen des Flures blieben nicht verschont: »Tichon Schamberg, verzeih mir, daß ich dich einen versoffenen Nichtsnutz und deine Frau ein tratschendes Waschweib genannt habe. Es tut mir leid!«
       »Halt’s Maul, du Schmock«, kam es zurück. Aber Birnbaum war schon eine Tür weitergehüpft.
       »Jankel Salomoniak, traurigster aller Menschen, entschuldige, daß ich dich eine Heulsuse genannt und dir geraten habe, einen Nervenarzt aufzusuchen, es wird bestimmt alles wieder gut!«
       Als Antwort war ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, das Birnbaum, der für die leisen Töne ein besseres Ohr hatte, einen Augenblick lang zögern ließ. Aber da Jankels Weinen eine häusliche Regelmäßigkeit war, sollte es am Ende auch an diesem Tag keinen Stachel für ihn bedeuten.
       »Schaich Zipperstein, Monsieur, ich weiß, daß deine Sicht der Eigentumsverhältnisse nicht nur durch deinen Beruf, sondern auch die Beschäftigung mit modernen politischen Theorien etwas unorthodox ist. Wenn ich dich mit der Bemerkung, du seist ein gemeiner Dieb, beleidigt haben sollte, dann bitte ich dich hiermit um Verzeihung!«
       Und weiter hüpfte Birnbaum auf blanken Sohlen von Tür zu Tür, um all den Volozhiners und Litvinovskis, den Goldzieher-Schlippentochs, den Pinskers und Pogebrinskis seine Reue anzuzeigen und um Vergebung zu bitten. Nicht alle Juden im Hause nahmen es so ernst mit diesem Ritual wie der Rabbi, aber sie waren immerhin fromm genug, um ihm durch ein ›Ja, ja, schon gut‹ oder ein ›Na schön, meinetwegen‹ oder auch ein ›Du uns auch, heiliger Mann‹ zu verstehen zu geben, daß ihm Verzeihung gewährt sei, denn andernfalls, wußten sie, würde er noch zwei weitere Male vor ihrer Tür erscheinen, bis er aufgeben durfte.
       »Aaron Lukin, nie wieder werde ich behaupten, du strecktest deinen Wein mit Wasser. Die gojischen Bauern sind es, die ihn dir verkauft haben, aber wenn sie mithören sollten, unten in Akkermann, bitte ich auch sie um Verzeihung für diesen Verdacht.«
       Birnbaum sprang weiter von Tür zu Tür, wich vorstehenden Nägeln und Unrat aus und verfluchte das Haus, dessen verdreckte und schadhafte Böden den Naturzustand seiner Füße so wenig zu würdigen wußten.
       »Kirill Ljutov, ich weiß, daß du kein

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