Trojaspiel
Birnbaum in seinen Armen gehalten hatte, unterschied sich von diesem Jungen. Auch ein jüdisches Neugeborenes unter dem Bett der fiebernden Mutter hätte seine Notlage nicht anders kommentiert. Und das war der Grund gewesen, warum Birnbaum an jenem Tag ohne weiteres auf die weiße Jarmulke und die Synagoge hatte verzichten können. Ein Menschenkind war auf die Welt gekommen, und es hatte ihn um seine Hilfe gebeten. Denn niemand anderes war zugegen gewesen. So einfach verhielt es sich.
Das Mädchen wußte mehr von den Heldentaten des Rabbis, als Birnbaum für möglich gehalten hatte. Das lag hauptsächlich an der Geschwätzigkeit des Arztes Aizik Voloschin und der Blühstein. Beide hatten mehrfach betont, ihre Dienste seien gewöhnlich nicht kostenlos, räumten aber ein, daß angesichts der Fürsprache des Rabbiners (eines so ›geachteten und weisen Mannes‹) sich die Frage der Bezahlung selbstverständlich erübrige. Die Patientin steckte den beiden trotzdem ein paar Rubel zu. Als der Rabbi davon erfuhr, war ihm das peinlich, denn es hatte sich um einen Notfall gehandelt, und es nutzte ihm gar nichts, ›weise und geachtet‹ zu sein, wenn man ihn tatsächlich nur als Arbeitsvermittlung ansah. Das Mädchen, das sich über die Beschämung Birnbaums zu wundern schien, zog ein paar Rubelscheine hervor.
»Sie müssen wirklich Einfluß besitzen. Keiner von beiden hat das Geld angenommen. Sie ließen es liegen, als sie gingen, und ein weiteres Mal habe ich es nicht versucht. Ich möchte es Ihnen geben. – Jetzt schauen Sie doch nicht so beleidigt. Es ist noch nicht so weit, daß ich Almosen annehmen muß! Schon gar nicht von denen, die vielleicht weniger besitzen als ich.«
Birnbaum setzte jetzt eine geschäftsmäßige Miene auf. Trotzdem würde er das Geld ebenfalls verschmähen. Ihr Stolz mißfiel ihm nicht, aber er fand ihn unangebracht.
»Es soll auch im Alexander- oder im Chersonviertel bezahlbare Wohnungen geben. Sie haben sich jedoch zu uns verirrt. In einer Lage, in der wohl jede Frau Hilfe braucht. Der Verdacht, Sie seien arm, darf Sie nicht wundern.«
Das Mädchen schlug den Blick nieder, als wäre es bei einer Lüge oder einer Anmaßung ertappt worden.
»Es ist doch keine Schande, arm zu sein«, erwiderte sie.
»Nein«, sagte der Rabbi gedämpft, »auch wenn manche Menschen sich das nicht eingestehen wollen.«
Es war ihm unangenehm, daß sie ihn bitter ansah, als wäre es ihre Pflicht, sich zu rechtfertigen. Das war nicht seine Absicht gewesen. Aber die junge Mutter, deren Blick jetzt unruhig durch das Zimmer wanderte und mit einem Ausdruck von Wärme und Furcht zugleich an der Wiege hängenblieb, machte sich wohl selbst Vorwürfe. Für Dinge, die ihn doch gar nichts angingen, auch wenn er das Geld nicht annehmen würde. Für Dinge, die er nicht einmal wissen wollte.
»Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt«, sagte sie mit einem halben Lächeln. Ihre Hände bewegte sie währenddessen unruhig in ihrem Schoß.
»Mein Name ist Lisaveta Lanaieva. Ich stamme aus Petersburg und arbeite seit zwei Jahren hier in der Stadt. Ich bin bei Madame Joubert in der Katharinenstraße angestellt, als Modistin.«
»So etwas habe ich mir gedacht«, antwortete Birnbaum nicht ganz wahrheitsgemäß und in der Hoffnung, das Mädchen habe im Fieber sein Klopfen und seine Bitten um Verzeihung nicht gehört. Aber er wollte jetzt einen versöhnlicheren Ton in das Gespräch bringen. Er mußte dem Mädchen nur ins Gesicht sehen, das ungefähr so arglos wirkte wie das ihres Kindes. Er mußte nur ihre hohe Stirn betrachten, die feinen Brauen und die hohen Wangenknochen, die von ihrem Ebenmaß und ihrer Schönheit selbst gar nichts wußten, um sicher zu sein, daß hier keine Gaunerin vor ihm saß.
»Ihre Garderobe und auch das Zimmer beweisen Geschmack, meine ich«, sagte der Rabbi unsicher.
»Vielen Dank«, antwortete das Mädchen artig, erleichtert über einen harmlosen Gesprächsgegenstand.
»Das habe ich von meiner Mutter. Sie hat all unsere Kleider genäht. Ich hatte in Petersburg noch eine Schwester, Larissa, und einen Bruder, Petja. Sie sind früh gestorben. Mein Vater war Hauslehrer . . .«
Der Rabbi erfuhr, daß Lisa in Petersburg nach dem Gymnasium zunächst die Handelsschule besucht hatte und sich dann, weil es ihr daheim zu eng wurde – hier blieb sie ein wenig undeutlich –, zu ihrer Tante nach Odessa gezogen war, gegen den
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