Trojaspiel
vorstellen, daß es reiche Juden geben könne. Diejenigen, denen es gut ging daheim, wie etwa Jontel Leizerman, dem Korsettbinder, oder Perla Galitskaia, der Perückenmacherin, und ein paar anderen, deren Namen er vergessen hatte, unterschieden sich nicht sehr von den übrigen. Sie lebten in Häusern, die einen frischen Farbanstrich trugen, sie waren besser gekleidet und rochen nach Seife, aber niemand von ihnen, darauf hätte Theo gewettet, würde zu Hause einen seidenen Kimono tragen.
»Was denkst du wohl, warum wir durch diese Straßen gehen, Jingele? Weil dieses Viertel der Ort der Gelehrsamkeit ist in unserer Stadt, und nicht etwa eine gewisse Fensterbank in der Stummstraße Nummer 9. Schon bald wirst du eine Schule besuchen und eines Tages die Universität, und so mächtig und drohend dir alle diese Fassaden auch erscheinen, irgendwann wird es dir auch hier zu eng werden, und du wirst dich in den großen Metropolen Europas behaupten. Das traue ich dir zu, wenn du es jedenfalls nebenbei auch noch schaffst, ein richtiger Mentsch zu werden.«
Der Rabbi sah Theo mit einer nicht ganz ernst gemeinten Strenge an, und er erkannte an den roten Wangen des Jungen, seinem leicht geöffneten Mund und seinem konzentrierten Blick, daß er sich vermutlich selbst gerade von den phantastischen Aussichten beflügeln ließ, die eine Karriere außerhalb des Räuberviertels mit sich bringen konnte.
Der ›Ort der Gelehrsamkeit‹ bot tatsächlich die vielfältigsten Attraktionen. Der Junge fühlte sich gedemütigt vom Glanz der mehrstöckigen Villen mit Gärten so groß wie Parkanlagen.
Es wollte ihm nicht einleuchten, daß irgend etwas in der Welt es rechtfertigen könne, daß ganze Familien in flohverseuchten Kammern ohne Fenster hausten, solange Menschen nur einen Steinwurf weiter in solchen Palästen lebten.
Er vermutete, seine Mutter habe ihn deswegen mit so feiner Kleidung ausgestattet, weil sie hoffte, auch er würde eines Tages in einem solchen Haus leben. Sie schämte sich, in einem Viertel wohnen zu müssen, das sich von der Herrschaftlichkeit dieser Straßen hier unterschied wie ein Leichenzug von einer Hochzeitsgesellschaft.
In seiner Aufgewühltheit wußte der Junge nicht, ob er zornig oder traurig sein sollte. Jedenfalls kam es ihm jetzt so vor, als ob die zahlreichen Schüler und Studenten, die Mappen und Mützen schwenkend auf der Straße spazierten und sich über alles zu amüsieren schienen, ganz besonders über ihn lachten. Und weil Theo sich, in lauter Melonenresten sitzend, gegen den Spott nicht anders zu wehren wußte, fing er einfach an zu weinen, aber er tat es leise und hinter dem Ärmel versteckt, weil der alte Mann nicht denken sollte, er sei undankbar.
»Hier gibt es Unterricht in allen Fächern des Lebens«, sang der Rabbi munter.
»Ein jüdischer Apotheker hat hier den ersten Gymnastikclub der Stadt eröffnet! – Das junge Volk, das hier durch die Straßen schwirrt, trägt alles in sich, was uns bevorsteht, in ihren Gesichtern steht geschrieben, ob wir noch loyal sind oder schon an die ›Freiheit des Volkes‹ glauben. Verhungern wir alle? Gibt es Krieg? Muß man enteignen? Sie lesen und lernen und können die schwierigsten Fragen beantworten. Noch haben sie die Zeit dazu. Und du, mein Junge, wirst einmal noch heller strahlen als sie!«
Theo hörte den Rabbi gerne reden, aber die Vorstellung, man ginge in eine Schule oder Universität, um gemeinsam zu lernen, konnte er nicht begreifen. Mußte das nicht ablenken? Er selbst würde niemals mehr Gesellschaft brauchen als die Bücher, seine Freunde im Haus und den Rabbi. Und das, was er auf der Fensterbank von der Welt sah, reichte ihm einstweilen völlig aus. In der Moldavanka war er bislang nur in den Finger gebissen worden, vielleicht sogar irrtümlich, aber hier würde man ihn sicherlich verachten. Paris, Rom oder München könnten nicht schöner sein als in den Büchern, weil in seinen Gedanken die Welt doch immer schöner oder schrecklicher war als in den Erlebnissen, die er hatte. Er brauchte nicht die Welt zu bereisen, um das herauszufinden.
Strahlen, wie diese affigen kleinen Soldaten mit ihren fest geschnürten Bücherbündeln unter dem Arm, die ihre Schuhe aufs Pflaster knallen ließen und dem alten Mann, der vorsichtig zwischen ihnen hindurch lavierte, nicht ausweichen wollten? Strahlen? Wie diese Villen mit den schamlosen Marmoraufgängen und den zähnebleckenden Burgzinnen?
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