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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Nein, er wollte kein strahlender Aristokrat des Geldes im seidenen Morgenmantel sein, der Depeschen der Zarenregierung studierte in einem kalten Palast auf dem Rücken der Stadt.
       »Für jeden Kopf, sage ich dir, gibt es die passende Nahrung«, lockte der Rabbi, während seine Hand den versteckten Reichtum des Viertels in die Luft malte.
       »Zwölf Grundschulen, dreizehn Gymnasien, zwei Realschulen, dazu kommen noch zwei Handelsschulen und drei Abendschulen für Berufstätige, nicht zu reden von den lobenswerten Instituten, die Ehefrauen höhere Bildung vermitteln, und ganz zu schweigen auch von den über zwei Dutzend privaten Schulen, an denen man alles lernen kann, Jingele, womit sich in der modernen Welt etwas verdienen läßt, gleichgültig ob Buchhaltung oder Hutmacherei, Kalligraphie oder Schauspielkunst, sogar Singen und Tanzen – und selbstverständlich alle Sprachen der Welt.«
       Theo war beeindruckt von der Vielzahl der Wissenschaften, denen sich Menschen widmeten und die ihn allesamt recht wenig interessierten. Er nickte mechanisch, die Arme auf der Brust verschränkt.
       »Weißt du eigentlich«, fragte Birnbaum, der sich jetzt immer häufiger zu seinem Schüler umdrehte, weil er bemerkt hatte, daß Theos Interesse für die Bildungsmöglichkeiten der Stadt noch unterentwickelt war, »daß die meisten der prächtigen Gebäude, die du siehst, nicht von Russen gebaut worden sind? Die Architekten waren Spezialisten, die aus Italien oder Deutschland kamen, und die wenigen russischen Baumeister ahmten ihre europäischen Vorbilder nur nach. Die Russen sind eben zur Hauptsache ein einfaches Volk. Sie bauen Häuser, die so gemütlich sind, daß sich ihre Hunde und Katzen darin wohlfühlen, und trotzdem erkennen sie das Schöne, wenn es ihnen begegnet. Aber den modernen Odessiten ist das nicht gut genug, sie kaufen sich Toricellis und Frapollis ein, um jedes noch verbliebene Haar des alten Wolfspelzes abzusengen, der noch aus der Zeit übriggeblieben ist, da hier alles Steppe war. Stell dir vor Jingele, drei Birnbäume gab es hier am Anfang«, witzelte Birnbaum, »auf dem ganzen Grund der Stadt, mehr nicht! Sogar unsere Akazien und Kastanien sind aus Südfrankreich importiert. Die erste Zeitung, die hier herausgegeben wurde, erschien in französischer Sprache, eine russische gab es erst acht Jahre später, und sie bestand zur Hauptsache aus Druckfehlern und schwülstigem Nationalismus. An unserer Oper werden Rossini und Donizetti favorisiert, diese Stadt wird selbst von ihren ausländischen Besuchern, die es ja wissen müssen, mit Marseille, Florenz oder Madrid verglichen. Du bist hier im russischen Teil Europas, Jingele, auch die hundertsechsunddreißig Meter lange Treppe, die vom Alexanderboulevard hinab zum Hafen führt, die größte der Stadt, niemand, der mit dem Schiff ankommt oder abreist, vergißt dieses Monument je – sie ist gefertigt aus Triester Sandstein.
       Trotzdem wirst du erkennen, mein Sohn, daß die Stadt ein russisches Skelett hat, denn Schwarzmeerkosaken waren es, die hier zuerst siedelten, sie haben die ersten Häuser aus der Erde gegraben, das zerklüftete Ufer befestigt, und ihr Witz, ihr Gesang und ihre poetische Roheit, die streifen einen noch immer hier in den Straßen.«
       Und mit diesen Worten zog Birnbaum den Knaben zur Hauptattraktion ihres ersten Ausfluges, einer großen Baustelle an der Chersonskaja 13, die sich noch bis weit in die kreuzende Konnaia erstreckte, ein gewaltiger Bau, dessen pylonengestützter Portikus, herrschaftlich im Vordergrund eingerüsteter Fassaden und weiter im Grundstück zurückliegender Rohbaufragmente, das Gebäude aussehen ließ wie einen gerade ausgegrabenen Tempel der Antike.
       »Und hier«, verkündete Birnbaum mit feierlicher Stimme, »wird einmal das Gedächtnis unserer Stadt aufbewahrt werden, das Wissen nämlich, das die Voraussetzung für alle Gelehrsamkeit ist. Dies ist der Neubau unserer öffentlichen wissenschaftlichen Bibliothek.«
       Theo hatte in der Moldavanka schon manches Haus einstürzen sehen, aber ein Gebäude, noch dazu ein so bedeutendes, im Zustand seiner Entstehung, das war etwas völlig Neues für ihn. Neugierig stieg er aus seinem Wagen und ergriff die Hand des Rabbis, der ganz fasziniert zu sein schien vom Betrieb auf der Großbaustelle.
       Auf dem Gelände herrschte die babylonische Sprachverwirrung, die man der Stadt nachsagte. Zwei ukrainische Maurer, die ihre Beine von einem Sims des ersten

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