Trojaspiel
sitzen und wartete, etwa eine Stunde lang, bis alle Anfragen, alle Drohungen und Verwünschungen vom hungrigen Keller der Ruine verschluckt worden waren.
Noch bis vor wenigen Monaten war Theo nachts nicht selten mit einem ohrenerschütternden Schrei aus dem Schlaf aufgewacht und hatte danach, ohne sich besinnen zu können, zitternd und weitäugig im Bett gesessen. Er ließ dabei ein Wimmern hören, das Lisa Furcht einflößte. Da diese nächtlichen Anfälle am nächsten Tag aus Theos Erinnerung wie weggewischt waren, er aber, während er noch wimmerte, nicht gesprächsbereit war, ließ es sich Birnbaum, den die Mutter um Rat fragte, nicht nehmen, anfangs in Lisas und Theos Kammer zu wachen, um den geheimnisvollen Nachtschreck, der den Jungen heimgesucht hatte, auf frischer Tat zu ertappen. Mutter und Sohn wunderten sich in den ersten Tagen, welche Geräusche ein bloß abwartend auf einem Stuhl sitzender älterer Mann von sich geben konnte, der sich bemühte, besonders ruhig zu sein. Sie warteten deswegen höflich, bis ein leicht schnarrendes Schnarchen diese Bemühung für beendet erklärte. Theo fand dann Gelegenheit, über jene ihm nur aus zweiter Hand bekannte Unregelmäßigkeit seines Schlafes nachzudenken. Wieso sollte ich wohl schreien, dachte er am dritten Tag von Birnbaums Nachtwache. Er konnte sich meistens an seine Träume erinnern und versuchte in ihnen zu lesen wie Deliah Blühstein in ihrem Kaffeesatz, keineswegs beunruhigt davon, daß sie oft wenig Sinn machten. Schon die Beobachtungen eines durchschnittlichen Tages auf der Fensterbank leisteten dem Verstand doch ein vergleichbares Maß an Widerstand, ohne daß man darüber ins Schreien, Schwitzen oder Wimmern geriet. Auch als Lisas Atem schon längst laut und regelmäßig geworden war, glaubte Theo, nicht einschlafen zu können. Birnbaums Körper nahm unterdessen im Schutze der Dunkelheit seltsame Formen an. Erst begann der Bart des Rabbiners größer zu werden und als riesige Feder durch das Zimmer zu segeln. Und dann war es Birnbaum selbst, der dem abtrünnigen Bart nachschwebte, in der Gestalt einer schwarzen Wolke, ohne jedoch Regen oder Gewitter zu erzeugen. Theo beobachtete dieses Schauspiel eine ganze Weile, und dann war er doch eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht wachte er wieder auf, weil ein schwarzer Mann auf seinem Bett saß, größer, breiter und flegelhafter, als selbst die schlimmsten Räuber der Moldavanka waren. Mit Zähnen, die den Hauern eines Ebers in nichts nachstanden, aber nicht nur seitlich, sondern auf der ganzen etwa gehstocklangen Lippenlinie des Besuchers aus dem Mund herauswuchsen. ›Mein Magen knurrt!‹ brummte das schreckliche Wesen, zu Theos nackten Füßen sitzend, und diese Bemerkung, sooft man sie auch in der Moldavanka zu hören bekam, hatte angesichts der Beißwerkzeuge des Gastes doch einen beunruhigenden Klang. Theo suchte kein Gespräch, sondern wollte schlafen, und blieb eine Antwort schuldig, was den Kerl am Fußende aber nicht daran hinderte, mit schorfigen Tatzen in die Luft zu krallen und auf ihn zuzurutschen. Es sah aus, als würde nicht ein Lebewesen mit schrecklich großem Gesicht, sondern die ganze rückwärtige Wand sich dabei bewegen. Erst als das Ungeheuer sein Maul öffnete, sich Speichelfäden zogen und noch etwas geknurrt wurde, das klang wie: ›Es ist Zeit mein Junge . . .‹, bemerkte Theo, daß er seinerseits den Mund aufreißen wollte oder schon aufgerissen hatte, um der Empörung über die Störung seiner Nachtruhe Luft zu machen.
Lisa war beeindruckt von Birnbaum, der Theos Kopf hielt und tätschelte, dabei Tränen trocknete, Haarsträhnen ordnete und mit seinem Bart neues Leben in das wie abwesend vor sich hin starrende Kindergesicht schmirgelte. »Pavor nocturnus«, sagte der gebildete Mann, Lisas mädchenhafte Ehrfurcht auskostend. »Wenigstens ist er kein Epileptiker«, fügte er lächelnd hinzu, nachdem er den Nachtschreck bei seinem lateinischen Namen genannt hatte. »Kindern passiert so was«, versicherte er der Mutter, um dann rot und verlegen zu werden. »In manchen Fällen auch Erwachsenen«, bemerkte Birnbaum noch um größere Genauigkeit oder Ernst bemüht, sah aber keinen Grund, den eigenen Nachtschreck vorzustellen, weil der weder Theo noch Lisa helfen würde.
Theo tat der Beistand des Rabbiners gut, denn plötzlich hob er deutend Arm und Finger und wies auf einen Platz am Ende seines Bettes.
»Dort hat er gesessen«, erklärte er mehr
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