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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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knackte nun verlegen mit den geschmeidigen Gelenken seiner Finger.
       Man fand einen Tisch, Birnbaum heulte noch immer, weil es auch befreite, und Theo saß auf seinem Schoß und mußte ihn trösten. Nichts am Verhalten des Knaben war Birnbaum jemals so unheimlich vorgekommen wie dessen Weigerung, sich im entscheidenden Moment zu seinem Schmerz zu bekennen. Wie konnte ein Mensch seine Ängste allein in der Heimlichkeit der Träume aufbewahren?
       »Schläfst du denn wenigstens gut, Jingele?« fragte der Rabbiner schniefend. Theo wußte, der Nachtschreck war gemeint, und fuhr Birnbaum wie früher mit den Fingern durch den Bart. »Ja, sehr fest sogar, Tadele. Es geht mir gut. Man sorgt für mich. Ich bin in Sicherheit, und du bist es jetzt auch.«
       Was der Junge nur redete!
       Birnbaum griff verstohlen nach dem schmächtigen Handgelenk des Knaben, fühlte aber nur seinen eigenen Puls, der allerdings ein wenig flach und hastig klang. Womöglich hatte man dem Jungen Drogen gegeben, um ihn abzustumpfen. Aber – nein! Gersch Visman, der Arzt, würde so etwas nicht tun oder zulassen. Er gebrauchte solche Substanzen lieber selbst und war trotzdem ein tüchtiger Mediziner, einfühlsam mit Kindern. Es ist der Schock, dachte Birnbaum, der hat den Jungen vorzeitig altern lassen. Ja, er wirkte älter und gelassener, das Schicksal ging gnädiger mit den Jüngsten um, zerbrach sie nicht, sondern ließ sie vorzeitig reifen. So verhielt es sich also, der Junge hatte den Flaum verloren, war hoffentlich in einem guten Sinne ernster geworden, bedachter, so wie es Birnbaum gewollt hatte, als er Theo von der Fensterbank auf die Straße geführt hatte, um das Leben erste Lektionen anmelden zu lassen.
       Theo bewegten vergleichbare Gedanken. Birnbaum war älter geworden und nun der einzige, um den der Junge sich noch sorgte. Solange Mischka, was vielleicht nie geschehen würde, die Pogromschiks nicht besiegte, solange der Mörder seiner Mutter unbestraft seine Kavalierslungen mit Luft füllte, mußte er sich um den Rabbiner Sorgen machen. Die Nachfragen, Drohungen und Verwünschungen, die Theo am Eingang zur Unterwelt hatte verklingen lassen, wirkten nach, sie dröhnten noch immer in seinen Ohren.
       »Ich werde deine Mutter und den Rebbe töten!« hatte Wassilev gebrüllt, solange bis Theo die Hände auf die Ohren gepreßt hatte. In einer alten Zeitung konnte er Ende November lesen, daß noch bevor der ›Aufruhr‹ den Westen der Moldavanka erreicht hatte, in der Stummstraße 9 die dort nicht gemeldete Bürgerin Lisa L. einem Raubmord zum Opfer gefallen war. Der Schädel war ihr im Schlaf zerschmettert worden. Als der Hausmeister sie fand, lag eine Geldkassette geöffnet auf dem Bett. Darin waren ihre Ersparnisse gewesen, wußte Theo, die einmal für seine Ausbildung hätten verwendet werden sollen. Das Haus ging dann in Flammen auf und der Fall in den Verwüstungen des Pogroms unter.
       Aber über all das hörte man von dem Waisenkind kein Wort.
       Birnbaum hatte Lisa kurz nach Theos Entführung gefunden und der wirr Stammelnden die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. Für die Wiederbeschaffung des Kindes war das zierliche Mädchen nicht zu gebrauchen. Birnbaum alarmierte Theos Ersatzväter und jeden, der ihm Gehör schenken wollte. Er erreichte es, die Mehrheit der jüdischen Anwohner der Nummer 9 in den folgenden Tagen, sogar noch während des ausbrechenden Pogroms, zur Suche nach einem kleinen weißblonden Knaben anzuhalten. Vielleicht kam deswegen niemand außer Lisa und dem Haus selbst zu Schaden. Birnbaum hatte sich am zweiten Tag des Pogroms im Haus des Rechtsanwaltes Boruch Gendelman versteckt. Der lebte in der Bazarstraße und war durch seine Beziehungen und unter Dreingabe des Familienschmucks von der Judenliste, die für den Alexanderdistrikt kursierte, gestrichen worden. Der Rabbi mußte erkennen, daß der Weg aus seinem bessarabischen Dorf nicht weit genug gewesen war, um Erinnerungen aus dem Kopf und den Geruch verbrannter Häuser aus der Nase zu verlieren. Zwei Tage lang hatte er gebetet. Dann zog er aus, um Menschen zu trösten und erfuhr, daß Theo den Entführer gewechselt hatte.
       Aber dem Jungen schien es gutzugehen. Log er nur überzeugender? Hatte er sich mit einem Los abgefunden, das ihm von Verbrechern vorgegaukelt wurde? Nicht nur in Odessa, überall auf der Welt brachten skrupellose Erwachsene Kinder in Abhängigkeit, um von ihnen zu profitieren. Wollten ihnen weismachen, daß es ganz

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