Trojaspiel
für diesen und andere Ausbrüche belächelt worden. Er hatte recht behalten, Japonchiks Begriff von Vergeltung schloß dergleichen ein. Zerschmetterte Kinderköpfe auf dem Boden des Künstlerlokals, das war es, was die Theaterstimme verbarg, wenn sie den Ohren ihrer Zuhörer schmeichelte.
Mischka folgte seinen Geschäften, rechtfertigte sich nicht, überlegte nur kurz, ob er Theo an das Bett der geschändeten Mädchen führen oder die von Sinnen gekommene Ismailova vorstellen wollte, ob Madame Rubinov zu einem erzählerischen Abriß ihrer eigenen Erfahrungen gebracht werden könnte oder ob man Theo nicht besser mit Gewalt zu jeder weiteren noch folgenden Bestrafung, zu jeder Mißhandlung und Exekution schleifen sollte. Und er verwarf das alles, denn er wollte kein Lehrmeister sein, wollte dem Leben selbst diese Aufgabe nicht streitig machen. Für ihn gab es keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung. Mischka Japonchik war nun einmal Mischka Japonchik. Niemand, der nicht wollte oder konnte, mußte so sein wie er. Aber jeder, der ihm folgte, mußte ihn akzeptieren oder gehen oder den König töten. Alles das hatte er dem Jungen bereits vermittelt, hatte ihm sogar seinen Dolch überlassen, um die Tat zu verüben. Weshalb denn auch nicht, es würde eines Tages ohnehin geschehen, warum nicht von der Hand des unschuldigen Knaben, warum nicht von der Hand eines Gerechten? Das Leben aber, nicht seine Wenigkeit, sollte Theos Lehrmeister sein. Vielleicht nicht gerade dort, wo der Knabe sich am liebsten aufhielt, unter der Erde, aber auf dem Gesicht dieser lichten Welt hatte auch ein unschuldiges Kind wie er zu jeder Zeit und an jedem Ort bereit zu sein dafür, daß geschehen könne, was mit Worten, Verstand und Moral nicht zu erklären wäre. Jeder Mensch war doch ein Schauspiel, war Tragödie und Lustspiel in einem. In Japonchik-Dramen floß das Blut nun einmal reichlich, und das machte sie größer, aber auch schrecklicher als andere.
Punktum.
Für Theo gab es keinen Ausweg. Der Junge erkannte das, erinnerte sich an Überlegungen, in Wassilevs Gesellschaft angestellt. Daran, daß ein Mord sich mit Vorliebe in solcher Situation ereignet.
So wie jetzt.
Aber sein Gegner hieß nicht Wassilev, er hieß auch nicht Japonchik, Gegner waren nicht seine verstrickten Freunde und Bekannten. Die Umstände waren es. Das Unglück, ein mittelloser unmündiger Knabe zu sein, der sich aus gutem Willen in falsche Obhut begeben hatte. Ein Knabe, der sich hatte verführen lassen, sich dumm und ungläubig gestellt hatte, ohne es zu sein, so wie Bulanov – weil es alle so machten, weil es notwendig gewesen war, weil –, nein, es gab keine Entschuldigung dafür. Wie sein Selbstmitleid doch zum Himmel stank! Noch verlogener war es, Manka Erlösung aus dem Elend der Straße zu versprechen, mit dem Geld, das er als Buchhalter des vielleicht größten russischen Verbrechers – den Zaren einmal ausgenommen – verdient hatte. Woher war diese Verblendung gekommen? Am meisten schämte er sich vor den Menschen, deren Hoffnung ihm gegolten hatte, die ihn für besser oder stärker gehalten hatten, als er war. Zuerst vor seiner toten Mutter, dann vor Birnbaum, der ihn schon als Gelehrten oder Baumeister gesehen hatte. Wie demütigend das alles war, wie sehr er seine Freunde verraten und sein Talent mißbraucht hatte!
Damit war jetzt Schluß. Das war ohne Zweifel. Er würde mit Mischka reden oder vor ihm fliehen. Würde auch Manka, deren Leben er nicht in Gefahr bringen wollte, verlassen. Er würde sich schon irgendwie durchschlagen, und wenn er, wie seine Nachbarn in der Stummstraße geraten hatten, im Zirkus oder Varieté auftreten müßte. Nein, keine Ausbildung, keine Universität, kein anständiger Beruf. Nie wieder würde er seidene Kimonos tragen, nie würde er ein feiner Herr werden, der in Kavalierspose auf Fotografien brillierte.
»Ich werde einfach gehen . . .«, stammelte er Manka vor, lehnte Begleitung ab, behauptete, daß ihre Tränen nur einem Menschen galten, der auf dem besten Wege war, ein Schurke zu werden. Jemandem, der unter die Räuber gefallen war, um einer von ihnen zu werden. Küßte Manka auch nicht, war von dem Gedanken seiner Verdorbenheit ganz durchdrungen. »Eines Tages vielleicht sehen wir uns wieder . . .«, stammelte er weiter, auf keine theatralische Wirkung bedacht, weil das, was er empfand, wenn es denn Liebe war, ihm nicht mehr zustand. Er wollte Mankas Umarmung nicht:
Weitere Kostenlose Bücher