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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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standen. Ich kletterte ganz auf den Dachboden und erwartete fast, daß jeden Augenblick irgendein Wesen, zu diesem finsteren Raum passend, mich begrüßen oder über mich herfallen müßte.
       Am anderen Ende des Bodens, der Dachschräge mit der Werkbank gegenüberliegend, war eine Schnur mit einem dunklen Vorhang gezogen. Er trennte eine Schlafnische ab, in der sich neben einem Messingbett und einem Nachttisch eine wuchtige Truhe und ein Kleiderschrank befanden. An der linken Seite der Nische, direkt hinter der Truhe, die aussah wie eine alte Seemannskiste, hatte jemand eine Lamellenwand eingefügt, die den Teil des Speichers, der sich in einem Winkel über den westlichen Teil des Hauses erstreckte, abschloß und so die Nische verkürzte. Hinter der Lamellenwand, die sich problemlos zusammenschieben ließ, befand sich ein vielleicht achtzig oder neunzig Quadratmeter großer Raum, der schmucklos und kahl war – bis auf einen ungewöhnlichen etwa zwei Meter hohen und drei Meter breiten Quader.
       Zunächst dachte ich an ein eingestaubtes, vergessenes Puppenhaus, das, so wie die Villa selbst, Dimensionen besaß, die dem einstigen Reichtum unserer Familie entsprach. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, daß alles, was diesen Holzklotz zu einem Haus machen wollte, die Fassaden und Gesimse, die unzähligen Fenster, Stukkaturen und Verzierungen, ja selbst die Dachschindeln auf dem stumpfwinkligen Verschluß des Holzkastens, der das Dach darstellte, nur aufgemalt waren. Der Künstler oder Bastler mußte viel Geduld besessen haben. Jedes der Fenster war individuell gestaltet, Gardinen und Vorhänge, verschiedene Raffungen des Tuchs, sogar unterschiedliche Gewebe waren durch feinste Pinselstriche und wechselnde Farben nachgeahmt, selbst Risse im Mauerwerk, Gratziegel, Regenrinnen, Pflanzen vor den Fenstern. Bewohner, die über Fensterbänken lehnten, Vogelbauer, Taubennester unter dem Dachvorsprung, alles war sorgfältig und um wirksame Illusion bemüht auflackiert. Auf jeder Seite des Holzkastens gab es Fensterreihen, die eng nebeneinanderliegend und symmetrisch vom Dach bis kurz oberhalb des Bodens reichten. Ich zählte an den schmalen Seiten dieses Phantasiegebäudes nicht weniger als jeweils zweihundert und an den langen Seiten sogar dreihundertfünfzig Fenster. Nur eine Tür fehlte. Wer auch immer sich die Mühe gemacht hatte, das Holzgehäuse mit Hilfe von Farbe und Pinsel wie die Miniatur eines Wohnhauses aussehen zu lassen, er hatte den Eingang vergessen.
       Ich verbrachte viel Zeit damit, den Speicher gründlich zu durchsuchen, und baute zu diesem Zweck sogar starke Lampen auf. Nichts in diesem Raum, nichts in seinen Schränken, Vitrinen und Schubladen fand sich, was nicht aus der Zeit des Jahrhundertanfangs stammte. Kein Buch, keine Zeitung, kein Gegenstand, der nicht wenigstens achtzig Jahre alt war. Es gab weder Wasser noch Strom hier oben, nur Kerzenreste und Petroleumlampen. Die beiden Bücherschränke enthielten eine Bibliothek von etwa dreihundert Bänden, eine Vielzahl literarischer Klassiker: Milton, Sterne und Balzac, ja selbst Werke von Gogol und Puschkin oder Vergils Äneis in der Originalsprache. Einige Nachschlagewerke, sowie Standardwerke zur Naturwissenschaft und Philosophie, zur Völkerkunde, zur Botanik, zur Logik und zur Theologie in deutscher Sprache, außerdem einige unbekannte, zum Teil nachgebundene alte Schriften zur Mathematik, zur Musik und zur Architektur. In etwas mehr als der Hälfte der Bücher entdeckte ich das Ex-libris meines Urgroßvaters. Hatte hier jemand gewohnt, und war der Bewohner des Speichers ein eifriger Leser gewesen? Nach der großen Menge an Werkzeug zu urteilen, nach den Bergen von Holz, den Arbeitsspuren und den Resten von Sägemehl, die sich wie der Staub überall fanden, hatte jener Gast seine Zeit wohl eher mit handwerklichen Arbeiten verbracht.
       Persönlicher Besitz fand sich nicht mehr, ich hatte dieses seltsame Museum auf den Kopf gestellt und war dabei lediglich auf eine Handvoll bemalter Zinnkosaken gestoßen sowie einen alten Kompaß, italienisch beschriftet. Beides fand ich auf einem hohen Dachbalken, wie etwas, das man versteckt und dann vergessen hatte. Der Kleiderschrank enthielt eine Schneiderpuppe, die einen Leinenanzug trug, den Maßen nach für einen Knaben gefertigt, unter der Werkbank in einer Kiste mit Leim- und Farbtöpfen entdeckte ich ein braunfleckiges Taschentuch, das womöglich verwendet worden war, um einen blutenden

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