Trojaspiel
Fäulnis darüber hinaus durch Harze, mit denen sie die Leichname einrieben. Charakteristisch für die Austrocknung bei jeder Form der Mumifizierung war jedoch, daß der Leichnam nach und nach seine Gestalt verlor, an Masse und Umfang abnahm und einer Faltfigur aus altem Papier oder einem verschmorten Brathähnchen ähnelte. Jedesmal, wenn auf solche und ähnliche Ausführungen Blüthgen dann mit einer fast schon lässigen Bewegung das goldbeschlagene Zigarrenkistchen aufklappte (so daß zum Beispiel der Orientalistikprofessor Dr. Brand geneigt war zu sagen: »Danke Nichtraucher!«) und die Befragten jenes ungewöhnliche Fundstück aus dem Schrankkoffer Giocondos präsentiert bekamen, erschraken sie fast über dessen perfekte Erhaltung, die am ehesten an die Eigenschaften einer Wachsnachbildung erinnerte. Wenn man aber die kalte Hand berührte hatte und sah, wie sich sogar ihre Gewebepartien etwa zwischen Daumen und Mittelhandknochen bewegen ließen, hatte man den Eindruck, daß man ein merkwürdiges gummiartiges Leder berührte. Am treffendsten war die Bemerkung eines Biologen der Charité, der beim Besuch Blüthgens im Hause des Professors auch anwesend war: Diese Hand fühle sich an wie die Haut eines grünen Leguans aus der Familie der Echsen, die man im Zoo bewundern konnte. Nur die Haut des Leguans, sein auffälliges grüngelbliches Epithel sei etwas wärmer.
Schweren Herzens händigte Blüthgen auf Druck seiner Vorgesetzen das Beweisstück schließlich dem vor Ort ansässigen Militärpathologen aus, der sich bislang nur mit der Untersuchung von Hieb- und Stichverletzungen und sogenannten endballistischen Untersuchungen beschäftigt hatte. Er schoß in einem Keller der Garnison Projektile verschiedenster Kaliber durch tote Kühe und Schweine (wie man munkelte, auch durch illegal beschaffte Leichname), um das Wesen von Schußverletzungen zu ergründen. Aber auch seine Untersuchung der Hand brachte keine erhellenden Ergebnisse.
Blüthgen bereitete dieser Fall schlaflose Nächte, sein Ehrgeiz, der sich bislang nur an unspektakulären Herausforderungen gerieben hatte, wie etwa der Aufklärung eines Eifersuchtsmordes unter durchreisenden Zigeunern oder dem Fall einer Wirtshausschlägerei mit tödlichem Ausgang, war vielleicht auch deswegen so groß, weil seiner Ahnung nach auf diesem Posten eine vergleichbare Aufgabe nicht mehr auf ihn warten würde und weil er froh war für jede Stunde, die er nicht zu Hause bei seiner schnippischen und im übrigen desinteressierten Frau und seinen aufsässigen Söhnen zubringen mußte.
Seine Überzeugung wuchs, daß der Jüngling im Krankenhaus, der nachdem die Mordgerüchte wohl auch zu ihm gedrungen waren, urplötzlich geflohen war, den seltsamen Reisenden Giocondo umgebracht hatte.
Der Knabe war noch eine Zeitlang verfolgt worden und dann dem schwerfälligen Schutzmann, ein paar Polizeidienern und einem Mob aus zivilen Müßiggängern ausgerechnet in einer Sackgasse der vornehmsten Villengegend verlorengegangen. Motive für diese Mordtheorie ließen sich leicht finden, so waren in dem so kostbaren Nachlaß des Italieners keine Geldmittel gefunden worden, nicht ein einziger Pfennig. Auch daß es über gewisse, ursprünglich gemeinsam geplante terroristische Aktivitäten zu einem gewaltsamen Streit gekommen war, konnte Blüthgen nicht ausschließen. Aber Motive hin oder her, für eine Mordanklage benötigte man eine Leiche, und die war nicht vorhanden.
Ohne weiteres war übrigens die Hand, die eher zierlich wirkte, einem Mann von der Größe Giocondos zuzuordnen, aber für eine genaue anthropometrische Untersuchung reichte eine Hand eben nicht aus, man hätte den kompletten Unterarmknochen gebraucht, um die Größe ihres Besitzers zu ermitteln, alles andere war vage Vermutung, wenngleich die Tatsache, daß Giocondo Handschuhe besaß, die nicht nur ihm, sondern auch seiner mumifizierten Hand paßten, grundsätzlich rätselhaft war.
Aber hätte man denn nicht das Opfer der Verstümmelung mit Hilfe seiner Hand erkennen können, würde eine so tadellos erhaltene Hand nicht eindeutige Hinweise auf ihren ehemaligen Träger geben?
Welche Fragmente des physischen Menschen waren notwendig, um die Identität einer Person festzustellen? Selbstverständlich waren die kriminologischen Kenntnisse des Kommissars Blüthgen auf der Höhe seiner Zeit.
Natürlich hatte der Kommissar die Standardliteratur seines Faches gelesen und beherzigte ihre
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