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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Lehren seit dem Anfang seiner Laufbahn.
       Lombrosos berühmtes und inzwischen eher kurioses Grundlagenwerk L’Uomo delinquente , in dem der Italiener nach der Klassifizierung von fast siebentausend Straftätern den Standpunkt vertrat, daß man vom Erscheinungsbild des Verbrechers auf die Tat selbst schließen konnte, war Blüthgen genauso bekannt wie die für seinen Beruf lange Zeit tonangebende Arbeit des Franzosen Alphonse Bertillon, der, gestützt auf die Behauptung des belgischen Statistikers Quetelet, daß es keine zwei Menschen auf der Welt mit exakt gleichen Körpermaßen gebe, seine Kunden genauestens zu vermessen pflegte und der mit Hilfe der Fotografie für jeden von ihnen ein sogenanntes portrait parlé anfertigte, ein intelligentes System der Dokumentation von Gesichtsmerkmalen, wie Stirnpartie, Augen, Nase und Mund und Unterkiefer. Blüthgen selbst hatte sich vor Jahren für die Übernahme bestimmter Aspekte der Bertillonage und für eine anthropometrische Strategie eingesetzt und veranlaßt, von jedem noch so kleinen Haferdieb in seiner Dienststelle wenigstens sorgfältige Frontal- und Profilaufnahmen zu machen. Auch er hatte die Erfahrung gemacht, daß sich manche Zeugen an besondere physiognomische Eigenarten von Tätern eher erinnerten als an deren Kleidung.
       Daß allerdings, wie manche Kollegen immer noch meinten, die Frage der Nasenkrümmung, des Augenabstands oder der Größe des Ohrläppchens als Erklärung dafür herhalten konnte, in welchem Geschäftsfeld ein Verbrecher tätig wurde, ob nun als Heiratsschwindler, Viehdieb oder Sodomit, daran hatte Blüthgen niemals auch nur eine Sekunde geglaubt.
       Die Frage nach der Identität von Tätern und Opfern hatte zuweilen, weil genaue Zuordnungen fehlten, eine philosophische, ja fast metaphysische Dimension.
       Menschen, die dem Verbrechen oder auch nur dem ganz gewöhnlichen Tod nahe kamen, entwickelten Phantasien von entstellender Kraft, Vertrautes wurde rätselhaft, und Gestalten aus Alpträumen machten die taghellen Straßen unsicher.
       Es kam vor, daß Witwen die nackten Leichname ihrer verunfallten Ehemänner nicht erkannten, nach dreißig Jahren Seite an Seite, und erst bei der Betrachtung der sichergestellten Kleidungsstücke schluchzend zusammenbrachen.
       Es konnte vorkommen, daß es für einen brutalen Raubüberfall gleich ein Dutzend unmittelbarer Zeugen gab, die den Täter aus nächster Nähe gesehen hatten und trotzdem so unterschiedliche Beschreibungen zu Protokoll gaben, daß man meinen konnte, sein Opfer sei gleich von zwölf verschiedenen Bösewichtern nacheinander ausgeraubt worden. Der eine Zeuge hatte möglicherweise und ganz unbewußt den Vorgesetzten im Büro zum Täter gemacht, der nächste einen Nachbarn, an den er zufällig während der Tat denken mußte, und Blüthgen selbst hatte sich schon oft dabei ertappt, solche Männer zu verdächtigen oder bei Verhören besonders hart anzupacken, die dem Sohn jenes Pomeranzenkrämers ähnlich sahen, gegen den er einen ganz speziellen Verdacht hegte.
       Identität, was war das?
       Wenn Blüthgen den Feierabend hinausschob, bis zu dem Zeitpunkt, an dem jedes Lebewesen in seinem Heim, einschließlich der Katze und der Schaben in der Speisekammer, garantiert schlief und er bei kalt gewordenem Tee und einem mit Speck belegten Weißbrotkanten über dem Herzstück seines Jäger- und Sammlerdaseins hockte, der Registratur, die sozusagen seine gesammelten Werke darstellte, mit ihren Täterfotos sortiert nach Deliktart, und wenn er die Hand über die Aktenreiter gleiten ließ, so daß für kurze Zeit die Gesichter seiner Klienten aufblitzten, wie in einem Daumenkino, dann war er ihm einen Augenblick lang nah, dem universellen Verbrecher, dem Menschen an und für sich. Hätten sich inmitten dieser Bildergalerie die Gesichter von Freunden, Kollegen und Anverwandten gefunden, so wären sie ihm wahrscheinlich nicht einmal mehr aufgefallen.
       Aber seine berufsbedingte Melancholie hatte den Kommissar nicht dauernd im Griff, und außerdem war er auch vertraut mit dem neuesten und vielversprechendsten Hilfsmittel seiner Zunft, der Daktyloskopie, hatte jenes berühmte Buch Finger Prints des englischen Arztes und Anthropologen Sir Francis Galton gelesen und seine Weiterentwicklung durch den Generalinspekteur der bengalischen Polizei Edward Henry verfolgt. Die reichsweite Einführung des Fingerabdruckverfahrens als polizeiliches Identifizierungsmittel lag immerhin kaum

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