Trojaspiel
war eine Deutsche. Sie hat den Saisonkindergarten im größten Hotel der Stadt geführt. Im Regency logierten Kinder unter zwölf Jahren kostenlos, und niemandem fiel auf, daß unter all den steifen Laura-Ashley-Püppchen aus New York und Boston ein kleines Mädchen herumkugelte, das sich mit Kopftuch und Sonnenbrille tarnte, um niemanden mehr an die tote Mutter zu erinnern.
Mein Vater kam mich trotzdem erst regelmäßig besuchen, als ihn die Tischlerei rausgeworfen hatte. Nicht wegen des Alkohols. Er hatte eine Tour in die Berge unternommen. Er wollte am Penobscot River Lachse angeln. Auf halbem Weg kam er von der Straße ab und stürzte einen Abhang hinunter. Trümmerbrüche an Armen und Beinen. Es war klar, daß es dauern würde, bis seine Geschicklichkeit und die Beweglichkeit seiner Hände zurückgekehrt wäre. Es war aber auch möglich, daß er vergeblich darauf wartete.«
Laura machte eine Pause und sah mich an, als würde sie einen Kommentar erwarten. Damals hatte sie mir erzählt, ihr Vater sei durch einen Unfall früh gestorben, ihre Mutter schwer krank. Das war in ihren Augen eine durchschnittliche Chronik. An dem gemessen, was andere Gäste Mahgourians auftischten. Ich habe, wie gesagt, mit Dritten damals kaum Kontakt gepflegt. Ich schwieg auch jetzt. Warum soll man im Privaten kritisieren oder Fragen stellen und damit anderen das Recht einräumen, selber neugierig zu werden.
Ich hatte mir nicht einmal Details ihrer damaligen Erzählung gemerkt, weil ich alle diese Dinge nicht wissen wollte. Weil ein Rekord an Schicksalsschlägen mir leicht die Luft abschnürt, er lädt zu Vergleichen ein und zum Beschwichtigen, am Ende stehen dann Lügen: daß man alles erklären kann, daß man alles aushalten kann, daß man alles verzeihen kann. Davor ekelt es mich.
»Mit Old Harper war jedenfalls Schluß, und in Ermangelung eines anderen Zeitvertreibs oder weil ich das einzige Mädchen war, das kein Mitleid mit ihm hatte, begann er, ganz Vater zu werden. Er hatte das Häuschen seiner Mutter und etwas Geld geerbt, und mit dem, was uns die Unfallversicherung überwies, konnten wir eigentlich ganz gut leben. Eine Zeitlang war ich die glücklichste Halbwaise der Stadt. Meine Augen und mein Haar mußte ich nicht mehr verstecken. Die Ähnlichkeit mit der Frau auf den Fotos, die er mir zeigte, schien ihn seit neustem eher aufzubauen. Väter und Töchter verbringen wohl selten so viel Zeit miteinander. Er gab sich alle Mühe. Statt auf die Ratschläge ältlicher Matronen in der Nachbarschaft zu hören, die eine Mutter im Haus vermißten. Wieso auch? Sie war da. Auf den Fotos über meinem Bett, auf der Kommode, im Wohnzimmer, in der Küche. Und wenn ich in den Spiegel sah. Er brachte mir, so gut es ging, alles bei, was ihm als Kind selber Spaß gemacht hatte. Ein Finger seiner linken Hand war steif geblieben, und obwohl er kaum dreißig war, zog er das Bein nach. Aber wir machten Pfadfinder-Touren zum Douglas Mountain oder nach Sebago und campierten im Zelt am See, gelegentlich begleitet von der Kindergärtnerin, die mich so mitleidsvoll behandelte, als wäre mein alleinerziehender, verkrüppelter Vater ein demütigendes Verhängnis, von dem sie mich erlösen müsse.«
Als ich eine abrupte Bewegung mache, weil ich aufstehen und mich wieder auf den Stuhl setzen will, ein Versuch, Sachlichkeit zu demonstrieren, nichts weiter, greift Laura hastig nach meinem Arm. Über die Angst in ihren Augen erschrecke ich. Nein, ich wollte nicht gehen. Wie kann sie das denken. Der Stuhl steht jetzt in der Nähe der Tür. Aber ich wäre nicht einfach so ausgerissen, mir wäre unwohl geworden. Daß sie krank ist, will ich noch immer nicht glauben. Wie kann ich sie also in Frage stellen. Sie hält meine Handgelenke umklammert und drückt mich sanft zurück. Lauras Lippen weiche ich aus und ziehe statt dessen ihren Kopf an meine Brust. Die Tränen machen es nicht leichter. Aber sie murmelt weiter gegen mein Hemd oder mein Herz, ihre Augen müssen dabei wieder verborgen bleiben.
Dann sackt die Tochter stimmungsmäßig ab, als die Ordnung erst aus ihren Gedanken und dann aus ihrer Erzählung flieht.
Instinktiv spüre ich, daß jeder kleine Einwand, jeder angedeutete Zweifel, jedes bessere Wissen von ihr blind abgelehnt werden würde, spüre sogar ihr Lauern auf eine Unschuldsvermutung, aus dem gesunden Menschenverstand heraus, die sie mit der Macht zahlloser zergrübelter Nächte zurückschlagen würde,
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