Tropfen im Ozean
Ich zeige Ihnen ein paar Übungen, wie man die Haltung dauerhaft verbessern kann. Und die wirken sich auch auf das Gesicht aus. Auf den Hals, auf die Nasalfalten, die Sie noch gar nicht haben... und...“
„Und das aus Ihrem Mund?“ stieß ich hervor. „Haben Sie kein Interesse, an mir Geld zu verdienen?“
Er gab einen abwertenden Laut von sich.
„Also, wissen Sie“, sagte er, „da gibt es Wichtigeres. Sie wollten Bilder sehen? Ich zeige Ihnen Bilder. Ich hoffe, Sie verkraften das“.
Er öffnete einen Ordner auf seinem großen Monitor, klickte eines der unzähligen Bilder an, die sich darin befanden und ich schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
Ein furchtbar entstelltes Profil war zu sehen. Unglückliche Augen, lilaverfärbte, verschrumpelte Haut, das linke Auge nach unten gezogen, kein Lid mehr, keine Brauen, keine Wimpern, nur Narben, eine Fratze. Die rechte Seite war teilweise unversehrt und man konnte erkennen, dass dies einmal ein hübsches Mädchen gewesen sein musste.
„Ein Brandopfer“, sagte der Arzt mit monotoner Stimme zu mir. „Der Vater des Mädchens ist ausgetickt und hat sie ins Johannisfeuer gestoßen“.
Mir wurde schlecht. Doch gnadenlos klickte er weiter. Autounfälle, Drogenopfer, Verstümmelungen, weitere Brandopfer.
„Das hier war eine Prostituierte“, erklärte er, scheinbar emotionslos. „Ein Kunde hat sie mit Gürtel und Faust geschlagen und Zigaretten in ihrem Gesicht ausgedrückt. Ihr Kiefer war gebrochen und zwar so, dass es sehr schwierig war, ihn wieder in eine einigermaßen richtige Position zu rücken... man sieht es noch... hier... eine Asymmetrie... aber ich konnte Haut transplantieren und ein befreundeter Kieferchirurg hat seine Künste beigetragen... heute hat sie einen andere Identität und arbeitet als Büroangestellte“.
Nächstes Bild. Ich schloss kurz die Augen, mein Atem ging flach, während ich auf seine Stimme hörte, die Fotos im Kopf, hinter denen sich entsetzliche Dramen verbargen.
Er habe sie umsonst operiert, erklärte er mir, über ein Bild, das ich nicht anschauen konnte. 16 Jahre alt, sie hat ihr Leben noch vor sich und ich möchte, dass sie eine Chance dafür hat.
„Darum sind mir Kunden wie Sie willkommen...“ An dieser Stelle öffnete ich meine Augen wieder. Er fuhr sich gerade mit der Hand übers Gesicht.
„...weil... Sie zahlen, damit ich mich auch diesen Dingen widmen kann. Und gerade weiß ich überhaupt nicht, warum ich Ihnen das alles zeige, aber wenn ich von einem solchen Fall zurück komme und dann Damen vor mir habe, die wegen einer blöden Falte vor mir sitzen... dann...“
„Ja“, murmelte ich beschämt. „Krasser Gegensatz“.
„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch... ich liebe sie dafür, dass sie mir viel Geld dafür geben, um etwas zu bekommen, von dem sie meinen, dass es sie glücklich macht. Und wissen Sie was? Die Sache ist die, dass sie immer wieder kommen. Weil – es hat sie nicht glücklich gemacht. Dann finden sie eben die nächste Falte, die weg muss. Für mich ist das gut, das stimmt schon - und glauben Sie mir – ich zeige diese Fotos sonst nie... aber bei Ihnen, da finde ich... ich meine, Sie sollten...“ er sah mich an mit einem Blick, den ich nie, nie, nie vergessen werde. Forschend, erwartungsvoll, warm. Stumm sah ich zurück.
Sich von dem Augenkontakt lösend wandte er sich dann wieder dem Monitor zu und fuhr fort, mir die schrecklichen Bilder zu erklären, bis ich bei einem besonders heiklen Fall unwillkürlich einen Laut der Erschütterung von mir gab und zu weinen anfing.
„Zuviel?“ Ich fühlte seinen Blick auf mir wie eine sanfte Hand. Es war kein vorwurfsvoller Blick, im Gegenteil. Ich öffnete die Augen, sah erst auf den Boden, dann wieder zu ihm.
Das sympathischste Gesicht der Welt mit den mitfühlendsten Augen der Welt. Unsere Blicke sogen sich kurz aneinander fest, tauchten ineinander ein, im Bruchteil einer Sekunde gab es eine Öffnung, die mir das Gefühl gab, in sein Innerstes blicken zu können und ihm Einblick in meines zu gewähren. Und das machte mein Herz weit. Ich spürte es in derselben Sekunde. Irgendetwas flog aus meinem Herzen heraus, wie ein schwarzer Schleier, wie ein Vorhang, der über etwas Wertvollem gelegen war. Ich fühlte mich plötzlich wie vom grauen Star befreit.
Ja, Licht drang in mein Herz, in meinen Kopf. Ich erkannte, was ich da wieder gemacht hatte – quälenden Gedanken nachzugeben, die mich auf die komplett falsche Fährte führten. Die
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