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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Lächeln. »Das war aber leichtsinnig.«
    Mist! Das ist jetzt nicht die Zeit für Scherze, Ariel, um Gottes willen, sei jetzt nicht unverschämt. Aber Adam sieht mich nur kurz an, und dann geht er zwei Schritte auf mich zu, drückt sich an mich und küsst mich fest auf den Mund. Ich erwidere seinen Kuss, obwohl ich weiß, dass wir das hier nicht tun dürfen. Seine Lippen pressen sich mit kalter Dringlichkeit gegen meine, und dann spüre ich seine Zähne: Er beißt mich in die Unterlippe, zerdrückt sie fast. Ich entziehe mich ihm.
    »Adam …«
    »Entschuldige. Aber du treibst mich zu gewissen Sachen.«
    Ich schaue zu Boden. »Das ist nicht meine Absicht.«
    »Doch, das ist es.«
    »Nein. Sieh mal – ich weiß, was du meinst. Normalerweise ist es meine Absicht, mit Männern gewisse Sachen zu machen oder sogar, wie du es nennst, sie zu gewissen Sachen zu treiben, aber nicht bei dir. Du bist anders.«
    »Und wieso? Weil ich es geschafft habe, Gott zu verlieren? Oder weil ich Gott überhaupt je hatte?«
    »Entschuldige, dass ich dich unterbrochen habe. Was wolltest du sagen?«
    Er stößt einen Seufzer in die Luft: eine kalte Wolke der Unsicherheit. »Ich wollte sagen, dass ich erst Gott verloren habe und dann mich selbst. Du weißt, dass die Religion normalerweise den Menschen hilft, sich selber und Gott zu finden? Ich habe es geschafft, alles zu verlieren. Ich dachte, darum ginge es. Die ganzen Bücher, die ich darüber gelesen habe, das Verlangen und das Ego zu verlieren … Die ganze Sache war regelrecht seelenzerstörerisch. Ich war durch nichts darauf vorbereitet. Ich war durch nichts darauf vorbereitet, wie es wäre, sich der Religion objektiv bewusst zu sein, ohne ein Teil von ihr zu sein. Die Bibel wurde einfach zu einem Buch unter anderen Büchern. Ich konnte immer noch darin lesen und mir eine Meinung dazu bilden, was dieses oder jenes bedeuten könnte, aber ich hatte den Glauben daran verloren.«
    »Seelenzerstörerisch. Und damit eben auch selbstzerstörerisch.«
    »Ja. Ich erfuhr, wie es ist, wahrhaft selbstlos zu sein, und es war verflucht grauenerregend.«
    »Adam …«
    »Sich anderen Menschen anzuschließen, sich in ihnen zu verlieren, ›eins‹ zu werden mit ihnen. Das ist die Hölle. Wer hat gesagt, die Hölle wären die anderen?«
    »Sartre.«
    »Er hat recht. Mir war das nicht klar: deine Seele rauszureißen und anderen Leuten anzubieten, sie mit ihnen zu teilen, ist ganz und gar nicht, wie die Kommunion zu verteilen oder alte Klamotten zum Wohltätigkeitsverein zu bringen. Es ist, wie nachts in den Park zu gehen und dich nackt auszuziehen und darauf zu warten, dass die Leute dich anpissen.«
    Ich denke an Wolf und seine vergeblichen Versuche, zusammengeschlagen zu werden.
    »Die Menschen können nicht durch und durch schlecht sein«, sage ich.
    »Das will ich damit nicht sagen. Ich … ich weiß nicht, was ich damit sagen will. Das ist es, was ich dir neulich nachts erklären wollte, aber jetzt stelle ich mich auch nicht viel besser an. Habe ich dir erzählt, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte?«
    »Ja. Tut mir leid. Ich …«
    »Das gehört dazu. Das Selbst zerstört sich, das Selbst bricht zusammen. Es geht darum, das Selbst zur Explosion zu bringen, bis nichts mehr übrig ist. Aber das konnte ich nicht. Ich habe vollkommen versagt. Ich brach zusammen, sicher, aber bevor ich auch nur die Chance hatte, in den Abgrund zu blicken und zu sehen, was dort war, fing ich an, mich wieder aufzubauen. Ich versuchte, ›normal‹ zu sein: zu trinken und zu fluchen. Es hat ziemlichen Spaß gemacht. Aber jetzt bin ich mir nicht sicher, wer ich bin. Ich benutze dieses Wort ›ich‹, und ich weiß nicht, was es bedeutet. Ich weiß nicht, wo es anfängt und wo es aufhört. Ich weiß nicht mal, woraus es besteht.«
    »Ah. Na ja, da kann ich dir helfen«, sage ich. »Alles in dem bekannten Universum besteht aus Quarks und Elektronen. Du bestehst aus dem gleichen Stoff, aus dem ich bestehe, und aus dem gleichen Stoff, aus dem der Schnee besteht, und aus dem gleichen Stoff, aus dem dieser Stein besteht. Es sind nur unterschiedliche Kombinationen.«
    »Das ist eine wunderschöne Idee.«
    »Es ist wahr.« Ich lache. »Normalerweise sage ich das nicht. Aber es ist so wahr, wie irgendwas wahr sein kann.«
    Einmal habe ich mit meinen Studenten eine Seminarsitzung über die Arbeit mit Bedeutungen abgehalten. Eine kleine Einführungsveranstaltung, mit der ich sie an Derrida heranführen wollte. Wir behandelten

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