Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
Vom Netzwerk:
Saussure und den ganzen Grundlagenkram, und dann zeigte ich ihnen ein Foto von Duchamps Fountain – das Pissoir, das zum einflussreichsten Kunstwerk des zwanzigsten Jahrhunderts erklärt wurde – und fragte sie, ob das Kunst sei oder nicht. In dieser speziellen Sitzung vertraten die meisten den Standpunkt, dass ein Pissoir keine Kunst sein könnte: Zwei oder drei waren ziemlich aufgebracht deswegen und fingen an, über Picasso zu reden und dass ihre Kinder bessere Bilder zeichnen könnten, und über die Installation, die den letzten Turner Prize gewonnen hatte, die mit dem Licht, das immer an- und ausging … Ich hatte gedacht, es würde eine ziemlich einfache Sitzung werden. Ich hatte ja nur demonstrieren wollen, dass etwas, das als »Pissoir« bezeichnet wird (worunter wir etwas verstehen, in das Männer hineinpissen), sich nur deshalb von etwas unterscheidet, das als »Gemälde« bezeichnet wird (worunter wir Farbe auf Leinwand verstehen), weil wir die beiden sprachlich voneinander unterscheiden. Und ob wir beschließen, eines dieser beiden Dinge in der Kategorie »Kunst« einzuordnen, hängt davon ab, wie wir Kunst definieren. Aber die Studenten hatten Schwierigkeiten, das zu kapieren, und mich frustrierte das mit der Zeit. Ich erinnere mich daran, gedacht zu haben: Leckt mich doch am Arsch. Ich wäre jetzt so viel lieber zu Hause in meiner Küche, Kaffee trinken. Ich erklärte ihnen, dass alles auf der ganzen Welt aus exakt denselben Quarks und Elektronen besteht. Mit Atomen ist es etwas anderes. Klar, es gibt Heliumatome und Wasserstoffatome und alle möglichen anderen Arten von Atomen, aber sie unterscheiden sich nur durch die Zahl ihrer Quarks und Elektronen und, was die Quarks betrifft, durch ihre Anordnung. Ich erklärte ihnen, dass man von dem Pissoir deswegen in einer sehr konkreten Hinsicht behaupten könnte, es sei das Gleiche wie, sagen wir, die Mona Lisa. Ich sagte ihnen, was sie für die Realität hielten, sei durchaus abhängig von der Position, aus der sie es betrachteten. Unter einem Mikroskop, das stark genug sei, sähen das Pissoir und die Mona Lisa identisch aus.
    Nicht nur Raum und Zeit sind verpfuscht. Materie ist Energie, aber mehr als das: Materie ist bereits grauer Matsch, wir können es nur nicht sehen. Ich denke an die Troposphäre und frage mich, woraus sie besteht und, auch wenn sie nur in meiner Vorstellung existiert, woraus meine Vorstellung besteht.
     
    Adam begleitet mich in mein Zimmer. Ich setze mich sofort aufs Bett, aber er geht eine Zeit lang auf und ab, lugt zwischen den Vorhängen hindurch, nimmt die Bibel in die Hand und legt sie wieder hin. Ich denke, dass er sich auf den Holzstuhl setzen wird, aber schließlich kommt er und nimmt neben mir Platz, wobei er den Kopf ungefähr fünf Zentimeter neben meinem ans Kopfteil lehnt.
    »Falls wir demnach alle Quarks und Elektronen sind …«, beginnt er.
    »Was dann?«
    »Dann könnten wir miteinander schlafen, und es wäre nicht mehr als Quarks und Elektronen, die sich aneinanderreihen.«
    »Es kommt noch besser«, sage ich. »In Wirklichkeit ›reibt‹ sich in der mikroskopischen Welt nichts ›aneinander‹. Materie berührt nie wirklich andere Materie, also könnten wir miteinander schlafen, ohne dass sich irgendwelche unserer Atome überhaupt berühren. Vergiss nicht, dass Elektronen auf der Außenseite der Atome sitzen und andere Elektronen abstoßen. Deshalb könnten wir miteinander schlafen und uns tatsächlich zur gleichen Zeit gegenseitig abstoßen.«
    Ich höre, wie seine Atmung einen etwas anderen Rhythmus annimmt, als er mir seine Hand dort auf den Oberschenkel legt, wo der Stoff des Morgenmantels ein wenig aufklafft.
    »Und wie würdest du das nennen? Ich meine, wenn es nur Atome sind, die sich gegenseitig abstoßen, dann muss man doch wirklich nicht viel Aufhebens machen. Ich meine, warum sollte es jemandem etwas ausmachen?«
    »Adam …«
    »Wodurch wird es überhaupt real?«
    Einen Moment lang denke ich wieder an Schmerzen: daran, Reibung zu erzeugen; Atome zu zwingen, Elektronen auszutauschen; etwas dazu zu zwingen, real zu werden. Aber das hier ist etwas anderes, etwas, das darüber hinausgeht.
    »Durch Sprache«, sage ich. »Also alles, von der Existenz des Wortes real über die Existenz des Wortes beschissen bis zur Existenz des Wortes falsch. «
    Ich lege so viel Nachdruck auf das Wort falsch, dass er die Hand von meinem Bein nimmt. Ich schließe den Spalt in meinem Morgenmantel und schlage die Beine

Weitere Kostenlose Bücher