Troposphere
in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.
Aristoteles, »Poetik«
Kapitel neunzehn
Wie viel Zeit habe ich also? Nicht genug. Ich ziehe mich an, falte das Prioratsnachthemd zusammen und lege es aufs Bett, wobei meine Hände leicht zittern. Sie wissen, dass ich hier bin. Sie werden diese KIDS mit Sicherheit zuerst hierherschicken. Können die denn in Gotteshäuser gehen? Aber wenn diese Kerle sehr verzweifelt sind … Ich verstehe einfach das System nicht gut genug, dass ich wissen könnte, was sie tun würden oder nicht. Ich muss einfach irgendwohin, an einen Ort, wo sie nicht nach mir suchen. Ich muss dahin, wo Burlem ist. Wo er auch sein mag, er versteckt sich da seit mehr als einem Jahr.
Es sei denn, er ist so tot wie diese armen KIDS.
Als ich aufbruchsbereit bin, nehme ich »The End of Mister Y« aus der Reisetasche und lege vielleicht zum letzten Mal die Hand drauf. Ich kann das Buch nicht mitnehmen: Das Risiko, dass sie mich einholen, ist zu hoch. Nein. Es bleibt hier, hier können sie nicht rein. Und eines Tages komme ich vielleicht wieder, um es zu holen.
Kann ich das wirklich so machen?
Ich fahre mit meiner blassen Hand über den cremefarbenen Einband. Ich kann es nicht mitnehmen.
Aber wenn es nun jemand findet?
Ich betrachte noch einmal den kleinen Bücherschrank. Sogar auf dem silbernen Schlüssel liegt Staub. Niemand liest diese Bücher. Sie stehen nur zur Zierde da. Ich erinnere mich an einen Literaturwissenschaftlerwitz, den mir mal jemand erzählt hat und bei dem es darum geht, warum es so leicht ist, Theologie zu studieren. Den ganzen Witz weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich an die Pointe: weil sie nur ein Buch lesen müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, aber wir haben alle darüber gelacht. Gehe ich also das Risiko ein und stelle »The End of Mister Y« hier neben die Gedichte des Papstes? Ich wüsste nicht, was ich sonst tun könnte, ich schließe also den Bücherschrank auf und stelle das Buch hinein. Es sollte dadrinnen wirklich nicht auffallen. Ich mache die Glastür zu. Dann schließe ich sie ab. Soll ich den Schlüssel mitnehmen? Nein, sie würden ihn finden, wenn sie mich nach meinem Tod ausziehen. Ich lasse den Schlüssel hier. Aber wo? In diesem Zimmer gibt es keinen Platz, wo man irgendwas verstecken könnte. Ich bin in Eile und schiebe ihn schließlich einfach unter den Bücherschrank.
Als ich nach draußen komme, ist der schwarze Wagen verschwunden. Die eisig kalte Luft sticht mir ins Gesicht wie tausend kleine Messer, und zunächst verstehe ich nicht, woher die Tränen kommen. Es ist kurz vor dem Morgengrauen, und ich will mit Adam im Bett liegen, im Warmen. Aber ich bin auf der Flucht. Ich muss mich auf die Suche nach Burlem machen und eine Möglichkeit finden, wie ich diese KIDS davon abhalten kann, in meinem Gehirn ein Chaos anzurichten. Und … Meine Gedanken sind so genau und methodisch, dass sie mich regelrecht erschrecken; ich schaue auf das Priorat, und eine Sekunde lang stelle ich mir vor, es wäre ein weltliches Haus: ein Haus, vor dem ich keine Angst hätte und in dem ich gestern Nacht mit Adam hätte schlafen können. Aber wenn es kein Gotteshaus wäre … Bin ich so in eine Phantasie versunken, dass ich nicht mehr verstehe, was los ist, oder ist es möglich, dass die blonden Männer wirklich nicht dort reingehen konnten und ich für ihren Abgang gesorgt habe? Das habe ich nämlich zu tun versucht. Ich habe mich einfach auf Martin und die schreckliche Verkrampfung in seinem Bauch konzentriert, und ich habe ihm klargemacht, dass er sich auf die Suche nach einer Toilette machen muss. Ist es so einfach? Warum können die Männer es dann nicht? Sollten etwa nur die KIDS in der Lage sein, das zu tun? Aber warum kann ich es dann auch?
Apollo Smintheus. Warum hast du mich verlassen?
Es gibt einen Abschnitt auf der A2, unmittelbar in der Umgebung von Medway, wo man den Eindruck hat, man führe in den Himmel. Die meisten Straßen in Großbritannien scheinen so angelegt, dass sie von irgendwas umschlossen sind: Hecken, Feldern, Häusern. Aber diese Straße fegt wie der breite Strich eines Computer-Radierwerkzeugs durch die Landschaft, als ob die Pixelgröße zu hoch angesetzt und zu viel ausradiert worden wäre. Die Straße ist blassgrau und vier Fahrspuren breit. Der Himmel ist immer noch schwarz und alles – mit Ausnahme
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