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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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der Straße und des Himmels – ist von Schnee bedeckt, der den Schein der künstlichen weißen Lichter strahlend zurückwirft. Zum zweiten Mal in dieser Woche kommt es mir so vor, als lebte ich in einer schwarz-weißen Fotokopie. Es ist sechs Uhr früh, und abgesehen von zwei Streuwagen bin ich allein hier draußen, auf meinem Weg zur Schule von Burlems Tochter; und ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich dort ankomme. Außerdem muss ich Apollo Smintheus auftreiben. Ich habe so viele Fragen.
    Die Heizung im Wagen ist voll aufgedreht, und endlich wird mir langsam warm. Aber draußen ist es eiskalt, und ich weiß nicht, wo ich heute Nacht schlafen werde. Ich weiß nicht mal, wie oder ob das möglich ist, was ich geplant habe. Wie komme ich jetzt in die Troposphäre? Ich habe weder Sofa noch Bett. Was soll ich tun? Ich kann ja nicht einfach auf irgendeinen Parkplatz fahren und hoffen, dass alles gutgeht. Wahrscheinlich würde ich eher erfrieren als verhungern. Oder ich wache in einem Gefängnis auf – oder in einer Irrenanstalt. Martin und Ed haben ein Motelzimmer und zwei KIDS zur Unterstützung. Und ich weiß, dass sie bereit sind, mir wehzutun, ja, dass sie mir wehtun wollen. Ich habe nur mein Auto und 9,50 £ zur Verfügung. Ich kann nicht zurück zur Universität. Ich kann nicht zurück in meine Wohnung. Ich denke an meine Wohnung, die erbärmlichen paar Quadratmeter, und wieder fühle ich, wie mir die Tränen kommen. Ich habe das Gesicht vor Augen, das Adam machte, als er meine Wohnung verließ, und das Gesicht, als er mich gestern Abend verließ. Ich war mir so sicher, das Richtige zu tun. Jetzt bin ich allein auf mich gestellt, und bleibe es vermutlich, bis ich sterbe.
    Atme tief durch. Weine nicht. Schau auf die Straße.
    Ich spüre Kälte, diese Empfindung ist stärker als die Wärme von der Autoheizung … Und dann wird mir schwarz vor Augen, nur eine Sekunde lang – vielleicht auch länger. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich ein Schild, das vorher nicht da war. Ich hasse es, wenn das auf der Autobahn passiert, denke ich, als ob es normal wäre, was ich empfinde.
    Und ich weine immer noch nicht.
    Ein Schild Richtung London. Da will ich hin. Ein weiteres Schild mit den verschiedenen Ausfahrten, wenn man in eine der verschiedenen Ortschaften Medways möchte. Ich habe nicht so lange hier gelebt, dass irgendeiner der Namen Bedeutung für mich hätte. Abgesehen von … einer von ihnen sagt mir etwas. Es ist die Stadt, in der Patrick lebt. Ob er mir nochmal Geld leiht? Ob er um diese Zeit überhaupt wach ist? Mein Gehirn stellt eine Art Quantenberechnung an, die zu schnell ist, als dass mein Bewusstsein mithalten könnte. Und dann, im letzten Moment, setze ich den Blinker und nehme die Ausfahrt.
    Fünf Minuten später parke ich vor einer Raststätte neben einem heruntergekommenen Kreisverkehr. Überall stehen halbtote Bäume, und in den Büschen liegen zahllose Bierdosen und Müll. Das Lokal macht den Eindruck bereits im Planungsstadium verfehlt gewesen zu sein. Es ist halb sieben. Steht Patrick so früh auf? Ich darf weder ihn verärgern noch seine Frau alarmieren, und deswegen schicke ich ihm eine SMS: Für Bargeld tu ich alles. Ich füge den Namen der Stadt hinzu und drei kokette Pünktchen. Das muss nach Spaß aussehen, sonst kauft er's mir nicht ab.
    Die kalte Luft brennt mir in den Augen, als ich aus dem Auto steige und zum Eingang der Raststätte gehe. Das Restaurant macht erst um sieben auf. Ich setze mich zurück ins Auto und drehe die Heizung voll auf. Kann man sich umbringen, indem man mit vollaufgedrehter Heizung im Auto sitzt? Oder muss man wirklich bei laufendem Motor einen Schlauch vom Auspuff ins Fenster legen? Trotz eingeschalteter Heizung wird mir nicht richtig warm. Ich schließe die Augen. Apollo Smintheus … denke ich. Und ich frage mich, wie man zu einem Wesen betet, dem man wirklich begegnet ist. Kann man das? Apollo Smintheus. Bitte sag, dass es dir gutgeht. Bitte hilf mir, wenn du kannst. Ich tue jetzt gleich was Schlimmes, etwas, von dem ich nie jemandem erzählen werde. Aber ich muss zurück in die Troposphäre und mit dir reden, und dafür brauche ich ein warmes Zimmer. Funktioniert das? Sollte man so beten? Ich kenne nicht einmal irgendwelche klassischen Gebete. Ich war mal ganz gut im Meditieren. Vielleicht bringt das was. Die nächsten zehn Minuten sitze ich mit geschlossenen Augen und dem Heizungsgebrumm im Hintergrund und wiederhole die Worte Apollo Smintheus … Apollo

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