Troposphere
Kaffeetasse von heute Morgen liegt, also stelle ich den Bücherkarton woandershin und die Kaffeetasse ins Spülbecken. Jetzt liegt nur das Buch auf dem Tisch. Ich nehme es in die Hand und lasse die Finger darübergleiten, spüre die Kühle des cremefarbenen Leineneinbandes. Ich wende es und berühre die Rückseite, als könne die sich anders als die Vorderseite anfühlen. Dann lege ich es wieder hin, während mein Puls einen Trommelwirbel schlägt. Ich fülle meine kleine Espressokanne und stelle sie auf eine der lodernden Gasflammen, dann schenke ich mir ein halbes Glas von dem Sliwowitz ein, den Wolfgang mir geschenkt hat, und leere es mit zwei Schlucken.
Während der Kaffee aufkocht, checke ich die Mausefallen. Sowohl Wolfgang als auch ich haben Mäuse in unseren Wohnungen. Er erwägt, sich eine Katze anzuschaffen; ich habe diese Fallen. Sie töten die Mäuse nicht; sie halten sie nur eine Zeit lang in einem kleinen Plastikcontainer fest, bis ich sie finde und wieder freilasse. Ich glaube nicht, dass das System funktioniert: Ich bringe die Mäuse nach draußen, und sie kommen direkt wieder rein, aber ich könnte sie trotzdem nicht töten. Heute sind es drei Mäuse, die in ihren kleinen durchsichtigen Gefängnissen gelangweilt und genervt aussehen, ich nehme sie mit nach unten und setze sie im Hof aus. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir etwas ausmachen würde, Mäuse in der Wohnung zu haben, aber sie fressen wirklich alles, und einmal ist mir eine über das Gesicht gelaufen, als ich im Bett lag.
Als ich wieder oben bin, nehme ich vier große Kartoffeln aus dem Gemüsefach und wasche sie ab, bevor ich sie mit Salz bestreue und bei niedriger Temperatur in den Backofen lege. Das ist so ziemlich alles an Kochen, wozu ich im Moment imstande bin, außerdem habe ich nicht mal Hunger. Mein Sofa ist in der Küche, weil es keinen Zweck hat, es im leeren, unbeheizbaren Wohnzimmer stehen zu haben. Als sich die Küche allmählich mit dunstiger Wärme und dem Geruch von gebackenen Kartoffeln füllt, ziehe ich endlich meine Turnschuhe aus und kuschele mich mit meinem Kaffee, einem Päckchen Ginseng-Zigaretten und »The End of Mister Y« in eine Sofaecke. Und dann lese ich den ersten Satz des Vorworts, zunächst still in meinem Kopf und anschließend laut, während draußen ein weiterer Zug vorbeirattert: Die folgende Abhandlung mag manchem Leser als reines Phantasiegebilde oder als ein Traum erscheinen, der beim Aufwachen niedergeschrieben wurde, in den fieberhaften Augenblicken, da man sich noch immer im Banne jener Zaubertricks befindet, welche der Verstand vollführt, sobald die Augen geschlossen sind.
Ich sterbe nicht. Aber das hatte ich auch nicht ernsthaft erwartet. Wie könnte ein Buch auch verflucht sein? Die Wörter selbst – die ich zunächst nicht recht begreife – kommen mir einfach wie ein Wunder vor. Allein die Tatsache, dass sie da sind, dass sie immer noch existieren, in schwarzen Lettern auf grob beschnittenen Seiten, die wegen ihres Alters braun sind, allein das ist es, was mich erstaunt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viele andere Hände diese Seite berührt haben oder wie viele Augenpaare sie gesehen haben. Es wurde 1893 veröffentlicht, und was ist dann passiert? Hat es irgendjemand tatsächlich gelesen? Zu der Zeit, als er »The End of Mister Y« schrieb, war Lumas bereits ein in Vergessenheit geratener Schriftsteller. Er war in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeit lang ziemlich berühmt gewesen, sein Name war in aller Munde, aber dann verlor man das Interesse an ihm, und es hieß, er sei verrückt oder zumindest ein Sonderling. Einmal tauchte er in dem Ort in Yorkshire auf, wo Charles Darwin das machte, was er als seine »Wasserkur« bezeichnete: Lumas sagte etwas Grobes über Krebse und schlug Darwin ins Gesicht. Das war 1859. Danach schien er sich in immer esoterischere Aktivitäten zu versenken. Er suchte spiritistische Medien auf, erforschte paranormale Ereignisse und wurde Schirmherr des Royal London Homoeopathic Hospital. Von ungefähr 1880 an schien er aufgehört zu haben, Bücher zu publizieren. Dann schrieb er »The End of Mister Y« und starb am Tag der Veröffentlichung, nachdem jeder andere, der irgendwie mit der Herstellung des Buches zu tun gehabt hatte (der Verleger, der Lektor, der Schriftsetzer), ebenfalls gestorben war. Daher die Rede vom »Fluch«.
Es mag andere Gründe für die Vorstellung geben, dass das Buch verflucht ist. Lumas war ein Geächteter.
Weitere Kostenlose Bücher