Troposphere
Lumas wollte, dass der Leser es ausprobiert.
Die medizingeschichtliche Abteilung der Bibliothek ist im vierten Stock, hinter den Religions- und Philosophiebüchern in einer kleinen Ecke neben einer Treppe. Eine ganze Unterabteilung ist der Homöopathie gewidmet: Mengen von alten gebundenen Büchern, alle in gedeckten Farben, Dunkelgrün, Dunkelrot und Grau. Ich ziehe ein dickes grünes Buch heraus und lese den Titel, »Kents Repertorium«, und das Publikationsdatum, 1897. Ich setze mich im Schneidersitz auf den verblichenen Teppichboden und blättere es durch, fasziniert von der seltsamen Gestaltung, die ich nicht verstehe. Das Buch scheint Listen von Symptomen zu enthalten, die unter Überschriften wie »Schlaf«, »Augen«, »Genitalien« und »Verstand« zusammengefasst sind. Ich blättere in der »Schlaf«-Liste und finde dort einen merkwürdigen Abschnitt namens »Träume«. Ich überfliege die Seite und lese Einträge, die aus einem Wort und gelegentlich aus einer Wendung bestehen, Dinge wie: schamhaft, schießen, Schlangen, Schwefel riechen, Skelette, Sternschnuppen, und weiter oben: Obst stehlen, und fast am Anfang: Blitz, vom B. getroffen, das war er wohl. Nach jedem kleinen Stück Text stehen Buchstaben, die ich nicht verstehe, die aber aussehen wie Abkürzungen. Unter dem Eintrag »Träume, Schlangen« sind eine Menge davon: alum., arg-n., bov., grat., iris., kali-c, lac-c, ptel., ran-s., rat., sep., sil., sol-n., spig., tab. Ich weiß weder, warum manche davon kursiv gesetzt sind, noch, was die Abkürzungen bedeuten.
Ich blättere nach hinten zu der »Verstand«-Liste und finde unter »Wahnvorstellungen« einige äußerst seltsame Eintragungen, einschließlich der Wahnvorstellung: lebendig auf einer Seite, tot auf der anderen, und der weniger deutlichen: Geschmack, Illusionen von. In der »Genitalien, männlich«-Liste finde ich Verweise auf Erektionen, die »impulsiv« sein können, oder solche, die sich nur am Nachmittag ereignen oder während eines Hustenanfalls. Mir gefällt das, aber ich verstehe es nicht, und deswegen schließe ich den schweren Band wieder und schmökere in einigen der anderen Bücher, die im Regal stehen. Es ist merkwürdig: Ich dachte immer, Homöopathie sei eine Art verschrobener Kräuterheilkunde, aber schon der Anblick all dieser Bücher macht mir bewusst, wie ernst manche Leute es offenbar nehmen, oder genauer: es offenbar um die Jahrhundertwende genommen haben, als die meisten dieser Bücher ursprünglich erschienen waren. Die Autoren haben sehr vornehme oder seltsame Namen: Constantine Hering, Dr. med.; John Henry Clarke, Dr. med.; William Boericke, Dr. med.; und es sind sogar einige Frauen darunter, etwa Margaret Tyler, Dr. med., und Dorothy Shepherd, Dr. med. Sie haben alle diese Buchstaben hinter ihren Namen, die darauf schließen lassen, dass all die wichtigen Leute, die zu jener Zeit Homöopathie betrieben, Ärzte waren. Schließlich habe ich einen Stapel Bücher von 1880 bis zu den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengetragen; ich lasse mich an einem kleinen Tisch nieder und vertiefe mich in die Lektüre.
Nach zwei Stunden angestrengten Lesens gehe ich nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Der Himmel hat jetzt ein einheitliches, fast künstliches Blau angenommen, und eine Sekunde lang kommt es mir so vor, als sei etwas von ihm gelöscht worden. Ein graues Eichhörnchen rennt vor mir durchs Gras, der geschmeidige Körper hebt und senkt sich wie eine Welle. Meine Augen folgen ihm, während es einen Baum hochläuft und verschwindet. Jenseits des Baumes und weit den Hügel hinunter schimmert die kleine Stadt in gedämpftem, künstlichem Licht. Die Kathedrale dominiert wie üblich das Panorama, und in diesem Licht sieht sie sepiagelb aus, wie das Jpeg einer alten Fotografie. Während ich in der kalten Luft Rauch inhaliere, denke ich darüber nach, was ich heute Morgen erfahren habe. Homöopathie scheint im Jahr 1791 von Samuel Hahnemann erfunden (oder vielleicht entdeckt) worden zu sein. Hahnemann war ein Chemiker, der Abhandlungen über Syphilis und Vergiftungen durch Arsen geschrieben hatte. Er war mit den zeitgenössischen medizinischen Praktiken nicht glücklich, besonders was den Aderlass betraf. Hahnemann glaubte, dass König Leopold von Österreich im Grunde genommen von seinen Ärzten umgebracht worden war, die ihn innerhalb von vierundzwanzig Stunden viermal zur Ader gelassen hatten, weil sie auf diese Weise ein hohes Fieber kurieren wollten.
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