Troposphere
dreißigste Potenz, die anscheinend bei homöopathischen Verschreibungen üblich ist, wird hergestellt, indem man diesen Prozess dreißigmal wiederholt. Demnach wird die tausendste Potenz (die man als 1M-Potenz bezeichnet) hergestellt, indem man das Ganze eintausendmal macht. Zumindest habe ich das so verstanden. Klingt unmöglich. Ich lese es noch einmal nach. Ja. Das ist richtig.
Mist. Macht man dieses Zeug überhaupt noch? Gibt es noch so etwas wie Tafels hohe Potenzen oder den Skinner-Apparat? Muss ich etwa hingehen und Holzkohle suchen und anfangen, mit Pipetten und Sliwowitz (ob der wohl als edle Spirituose gilt? – wahrscheinlich nicht) herumzuhantieren. Würden meine Handgelenke all dieses Schütteln überhaupt aushalten? Ich habe keine bionischen Arme und absolut keine Ausdauer. Einmal habe ich hundert Seiten Randnotizen in einem Buch ausradiert, das ich fotokopieren wollte (lange Geschichte), und anschließend hatten sich meine Arme angefühlt, als hätte ich hundert Jahre lang einem Riesen einen runtergeholt.
Ich denke immer noch darüber nach und wünsche mir, es gebe die Möglichkeit, eine Art viktorianischen Apotheker zu finden, der helfen kann, als mir jemand auf die Schulter klopft. Obwohl ich dachte, ich sei allein hier drinnen, fahre ich nicht zusammen. Tatsächlich bin ich derart in dieses neue Problem vertieft, dass ich die Hand zerstreut von meiner Schulter abschüttle und weiterlese. Allerdings weiß ich schon, dass es Patrick ist. Ich kann sein Aftershave mit Waldaroma und den zitronigen Duft seiner sauberen Kleidung riechen. Er berührt mich wieder an der Schulter, und diesmal muss ich reagieren.
»Hi«, sage ich, ohne wirklich hochzuschauen.
»Hallo«, erwidert er und beugt sich über meine rechte Schulter. »Was liest du da?«
»Homöopathie, neunzehntes Jahrhundert«, sage ich und klappe das Buch zu, die Hand zwischen den Seiten. Ich will nicht, dass er mein Handgelenk sieht.
»Mann«, sagt er. »Gab es damals schon Homöopathie?«
»Ich glaube, das war die Blütezeit.«
Es entsteht eine lange Pause. Ich wünschte, er würde weggehen.
»Ariel«, sagt er.
»Was ist?«
»Kann ich dich zu einem Kaffee einladen, um mich zu entschuldigen?«
Ich seufze. »Ich habe hier ziemlich viel zu tun.«
»Ariel?«
Ich antworte nicht. Er steht schweigend hinter mir, und ich weiß nicht, ob ich mich umdrehen und ihn anschauen oder einfach weiterlesen soll, in der Hoffnung, dass er kapiert und geht. Ich bin nicht ganz sicher, was genau er kapieren soll. Etwas in der Art von ›Zieh mich nicht in deinen verdammten Familienscheiß rein‹. Nachdem ich ihn eine Weile ignoriert habe, beugt er sich noch weiter vor und schaut auf das Buch.
»Okay, dann lass ich dich mal in Ruhe«, sagt er, ohne sich zu bewegen. »Hey.« Er legt einen dünnen Finger auf das Buch, das vor mir liegt. »Phosphor. Das habe ich genommen.«
Ich schaue auf. »Du hast homöopathische Medikamente genommen?«
»Ja, natürlich. Ich bin mir nicht sicher, ob es gewirkt hat, aber …«
»Hör mal, vielleicht sollten wir doch schnell einen Kaffee trinken«, sage ich zu ihm. »Aber du musst mir ein paar Minuten Zeit geben, damit ich hier Schluss machen und ein paar dieser Bücher ausleihen kann. Sagen wir, draußen in fünf Minuten?«
»Wunderbar.«
Das Shelley College (nach Mary benannt, nicht nach Percy Bysshe) hat eine Fibonacci-Treppe, einen Kronleuchter aus den sechziger Jahren und ein Bistro namens Monster Munch. Das Monster Munch ist der einzige Teil des Colleges, der mir nicht gefällt. Es ist vollständig in sterilem Orange und mit dickschaligen weißen Kurven und Kanten eingerichtet, mit neuaussehenden Poolbillardtischen und einem Plasmabildschirm. Ich ziehe die heruntergekommene kleine Bar im Russell Building vor, die Steh-Aschenbecher und Tische mit abgestoßenen Kanten und Hartfaserplatten hat. Die Studenten mögen die Russell Bar nicht, weshalb sie normalerweise leer ist. Gelegentlich gehen sie hin, um zu pauken oder um es sich verkatert auf einem der fleckigen alten Sofas gemütlich zu machen, aber nicht besonders oft. Im Monster Munch darf man jedenfalls nicht rauchen. Man kann nur glänzende Dinge im Monster Munch machen; hier drinnen muss man ein glänzender, sauberer Mensch sein: Die Neonlampen und die Spiegel an den Wänden hindern einen daran, etwas anderes zu sein.
Ich sitze auf einem Hocker an einem schmalen weißen Tisch neben dem Fenster und ziehe die Pulliärmel herunter, um meine Handgelenke zu
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