Troposphere
Während Hahnemann Cullens »Materia Medica« übersetzte, hatte er einen erstaunlichen Gedanken. Cullen behauptete, Chinarinde heile Malaria allein aus dem Grund, weil sie bitter sei. Aber Hahnemann wusste zufällig, dass eine Vergiftung durch Chinarinde Symptome erzeugte, die den von Malaria erzeugten ähnlich waren, einschließlich Wassersucht und Auszehrung. Er begriff, dass das Ding, das Malaria heilte, zugleich sehr ähnliche Symptome verursachte. Konnte das auch in anderen Fällen von Krankheit und Medizin zutreffen? Konnte es sein, fragte er sich, dass Gleiches mit Gleichem kuriert werden kann?
Es war sein erster Heureka-Moment. Und der führte schließlich zur Entwicklung eines vollkommen neuen Systems der Medizin, nach dem Motto: Similia similibus curentur – lasst Gleiches von Gleichem geheilt werden. Hahnemanns zweiter Heureka-Moment fand statt, als er zu der Auffassung gelangte, dass es die kleine Dosis ist, die heilt. Gut und schön, jemandem gegen Malaria Chinarinde zu geben; aber da die Rinde giftig ist, fügt sie dem Patienten immer auch Schaden zu. Eine Vergiftung mit einem Gift zu kurieren, klang nicht unbedingt sonderlich plausibel, und deswegen experimentierte Hahnemann mit Verdünnungen der Chinarinde und fand heraus, dass man die Rohsubstanz ziemlich stark verdünnen und trotzdem eine Reaktion erzielen konnte. Später entdeckten die Homöopathen des neunzehnten Jahrhunderts, dass die Medizin umso wirkungsvoller war, je mehr die Dosis verdünnt wurde: Wenn man sich dem Infinitesimalen näherte, näherte man sich zugleich etwas sehr Sonderbarem und Starkem. Paradox, aber so war es nun mal. Das Paradoxe hat auch die Quantenphysiker oder Einstein nie abgeschreckt.
Hier draußen ist es trotz des blauen Himmels eiskalt, und sobald ich die Zigarette ausgemacht habe, gehe ich zurück in die Bibliothek und hoch in den vierten Stock und setze meine Lektüre fort. Ich hole das erste Buch, das ich heute in der Hand hatte, wieder aus dem Regal und sehe es mir noch einmal an. Jetzt verstehe ich, dass dies ein Buch ist, in dem homöopathische Ärzte Symptome nachschlagen können und zu jedem die entsprechende Medizin aufgelistet finden. Diese komischen kleinen Abkürzungen beziehen sich, wie es scheint, auf homöopathische Substanzen. Ars. ist Arsenicum; bry. ist Bryonia; carb-v. ist Carbo vegetabilis. Sobald ich verstehe, wie das System funktioniert, bin ich versucht, meine ganzen eigenen Symptome nachzuschlagen – frühes Aufwachen; Verlangen nach Salz, Zigaretten und Alkohol; Gefallen an sündhaftem Sex; Bevorzugung meiner eigenen Gesellschaft vor derjenigen anderer –, aber ich habe keine Zeit. An Handgelenken und Fußknöcheln habe ich Schürfwunden, die auf meiner Haut glänzen wie kleine Stücke von geschmolzenem Plastik. Sollte ich etwas zu finden versuchen, womit sie geheilt werden? Das müsste ziemlich schnell gehen. Oder besser nicht. Fast gefallen sie mir.
Ich gähne und halte mir gar nicht erst die Hand vor den Mund: Den ganzen Morgen über ist niemand hier oben gewesen. Ich weiß immer noch nicht, was Carbo vegetabilis ist, und auch nicht, was die tausendste Potenz sein könnte, und deswegen blättere ich den Stapel Bücher auf dem Tisch durch, bis ich schließlich auf zwei nützliche Dokumente stoße. Eines ist eine kurze Biographie von Dr. Thomas Skinner, einem schottischen Homöopathen, der im Jahr 1876 die Vereinigten Staaten besuchte und etwas entwickelte, das »centesimaler Strömungspotenzierer« genannt wurde, und mit dem er das herstellte, was in dem Buch als »Potenzen über das Tausendstel hinaus« beschrieben wird. Nachdem ich noch sehr viel mehr geblättert und gelesen habe, stoße ich auf das nächste nützliche Dokument. Es ist der Wiederabdruck eines Katalogeintrags aus dem Jahr 1925, in dem Boericke & Tafel, homöopathische Apotheker aus Philadelphia, in allen Einzelheiten beschreiben, wie homöopathische Medikamente gemacht werden (oder wurden). Der Herstellungsprozess klingt verrückt. Anscheinend lässt man eine Substanz (Chinarinde, Arsen, Schwefel, Schlangengift, egal was) in »den edelsten, aus gesundem Getreide gewonnenen Spirituosen« ziehen, bevor man das eigentliche Medikament herstellt, indem man einen Tropfen dieser »Muttertinktur« nimmt und ihn mit neunundneunzig Tropfen Alkohol vermischt und dann die Mixtur zehnmal schüttelt, daraufhin einen Tropfen dieser neuen Mischung nimmt und sie mit neunundneunzig frischen Tropfen Alkohol vermischt und so weiter. Die
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