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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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noch etwas von der Mixtur und halte mir die Karte vor die Augen.
    Der Tunnel.
    Die Straße.
    Konsole.
     

Kapitel vierzehn
     
    Sie haben jetzt die Wahl zwischen siebenundzwanzig Möglichkeiten.
    Warum ist es anders als vorhin? Zumindest bin ich am selben Ort, auf derselben verlassenen Straße und schaue auf dieselben Schilder. Bis auf eines sind alle in der Sprache, die ich nicht lesen kann. Eines ist jetzt erleuchtet und lesbar. Maus 1 steht darauf. Ich bin offenbar wirklich im Begriff, verrückt zu werden. Aber hier, in der Troposphäre, scheine ich mir keine Sorgen über so was wie verrückt zu werden machen zu müssen. Wie die Angst, die ich beim letzten Mal verspürte – Angst, die sich nicht wie Angst anfühlte –, ist die Besorgnis da, aber es fühlt sich nicht so an. Mein Herzschlag ist nicht beschleunigt, ich schwitze nicht. Ich beobachte mich wieder wie in einem Film. Ich spiele mich selber in einem Videospiel. Dann kann ich eben zwischen siebenundzwanzig Möglichkeiten wählen. Ich weiß immer noch nicht, was das bedeutet. Und um ehrlich zu sein: Ich wäre glücklich, bloß hier draußen auf dieser Straße im Nirgendwo bleiben und dieses paradiesische Nichts empfinden zu dürfen. Könnte ich in meiner Unwissenheit glücklich sein? Nein. Ich muss herausfinden, wie dieses Ding funktioniert. Was ist die Troposphäre? Die verschwommene Konsole ist wie ein halbdurchsichtiger Stadtplan über meinem Gesichtsfeld, der mir zeigt, welche Orte »live« sind: welche Orte ich betreten kann. Zumindest schien es das beim letzten Mal zu bedeuten. Beim letzten Mal war der Ort, den ich als Nächstes hätte betreten können, das Apartment, das nun mit dem Schild Maus 1 gekennzeichnet ist. Jetzt scheint eines der Geschäfte ein paar Türen die Straße hinunter markiert zu sein. Es ist ein kleines Musikgeschäft mit einem Klavier im Schaufenster. In meinem Kopf bitte ich die Konsole, sich zu schließen, und sie verschwindet flackernd. Jetzt kann ich mir das Geschäft näher ansehen. Da steht das Klavier: ein kleines schwarzes Ding mit Notenpapier auf dem Pult. Ich schaue genauer hin und sehe, dass das Stück einen deutschen Titel hat. Das Schild an der Tür ist ebenfalls auf Deutsch: Offen. Als ich die Tür aufmache, klingelt eine kleine Glocke. Ich erwarte, das Innere des Geschäfts zu sehen, aber natürlich passiert das nicht.
     
    Sie haben jetzt die Wahl.
    Sie … Ich bin jetzt jemand anders: ein Mensch und männlich. Ich sitze in einem Café und warte. Ich muss die Gedanken dieses Menschen nicht übersetzen: Es ist ein merkwürdiges Gefühl, tatsächlich jemand anders zu sein, aber das scheint jetzt der Fall zu sein. Es ist mit Sicherheit einfacher, als eine Maus oder eine Katze zu sein. Ich kann … ich kann Deutsch sprechen. Ich denke sogar auf Deutsch. Ich kann Noten lesen. Ich … Okay, Ariel, krieg dich wieder ein.
    Ich sitze also in einem Café und schaue in den Bodensatz einer weißen Tasse, die mit altem, grauem Cappuccinoschaum verschmiert ist, und ich bin stinksauer, aber das ist nichts Neues. Wie konnte er mir das nur wieder antun? Wieder. Bei dem Wort könnte ich zu weinen anfangen. Ich kann es auf der Haut, den Wangen und meine Brust hinunterlaufen spüren: Kleine Käfer des Scheiterns krabbeln auf mir herum, und alle wiederholen sie das Wort: wieder. Er hat gesagt, es würde nicht mehr lange dauern. Jetzt sieht es so aus, als käme es nie dazu. Das muss mit etwas zu tun haben, was ich nicht gesagt habe. Das muss mit etwas zu tun haben, was ich nicht getan habe. Die Vorstellung, dass das sowieso passiert wäre, ist zu abstoßend. Es muss an diesem Hemd liegen. Er hat gesagt, ihm gefiele das blaue, warum trage ich also dieses rote Stück Scheiße?
    In diesem Moment kommt die Kellnerin herüber, und ein schwacher Umriss eines anderen Geschäfts erscheint über ihrem Körper, ganz wie Lumas andeutete, und mir wird klar, dass ich durch diese Tür treten könnte, anstatt »hier« zubleiben – was immer in diesem Kontext »hier« ist. Soll ich das versuchen? Als Mr. Y das tat, prallte er zurück in die Troposphäre. Was soll ich dann machen? Ich versuche, die Konsole aufzurufen, aber sie erscheint nicht. Ohne diese Orientierungshilfe werde ich nichts unternehmen.
    Ich rufe sie noch einmal auf.
    Sie erscheint nicht.
    Wenigstens habe ich weitere fünfzehn Minuten mit ihm verbracht. Aber was sind schon Erinnerungen an weitere fünfzehn Minuten gegen ein ganzes Leben zusammen? Die Zukunft, die mir zugestanden

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