Troubles (German Edition)
Stuhlrücken, Kinn auf die Brust gelegt (ausgenommen Ripon, der mit schiefgelegtem Kopf zu den Spinnweben hinaufschaute, die unter der Decke wogten). Hinter ihnen standen, ohne dass man eine Ordnung erkennen konnte, in andächtiger oder schicksalsergebener Haltung (beinahe wie die Verlierer einer gnadenlosen Runde von »Reise nach Jerusalem«) Murphy, drei oder vier uniformierte Dienstmädchen, eine ungeheuer dicke Frau mit Schürze sowie Evans, der Hauslehrer, sein Gesicht pockennarbig und totenbleich. Die Dienerschaft, nahm der Major an, war nicht hier, um an dieser Andacht für einen fremden Gott teilzunehmen, sondern wartete, dass sie vorüber war, damit sie das Frühstück servieren konnte. Doch Edward war noch immer bei seinem Ritual.
An der Wand jenseits des Tisches hing eine holzgeschnitzte Gedenktafel in Gestalt eines riesigen aufgeschlagenen Buches; dahinter reckte ein Einhorn sein Haupt. Buch und Einhorn bildeten gemeinsam das Familienwappen der Spencers; in das Papier von sämtlichen Briefen Angelas war es eingeprägt gewesen. In diesem speziellen Falle waren in die lackierten, kunstvoll gekräuselten Seiten vor Kurzem zwei lange Listen von Namen geschnitzt worden, erschreckend in ihrer Blöße, das weiße Holz unter dem Lack offen wie eine Wunde.
Wer mochten diese armen Kerle gewesen sein?, überlegte der Major, abwesend und ohne Mitleid. Nach welchen Kriterien hatte man sie ausgesucht? Junge Männer aus Kilnalough? Aber nur wenige Iren waren rekrutiert worden. Connolly, Sinn Féin, Nationalisten jeglicher Couleur hatten befunden, dass Iren nicht in der britischen Armee kämpfen sollten. Aber wenn sie nicht aus Kilnalough waren, dann waren es vielleicht Männer von Trinity, Vertreter eines heroischen Kricketclubs, alte Schulfreunde. Es gab so viele Möglichkeiten, wie man die große Armee der Toten drillen konnte, klassifizieren, inspizieren, wie man sie dazu bringen konnte, dass sie ihre gespenstischen Waffen präsentierten. Unzählig die Institutionen, die zivilen wie die militärischen, die ihre bedrückenden Abrechnungen aufstellten und sie in Holz, Stein oder Metall festhielten. Doch wenn schon die Liste der Institutionen endlos war, war die Liste der Toten es erst recht. Ja, es gab so viele, dass es für mehrere Runden gereicht hätte. »Niemand hat größere Liebe denn die«, dachte der Major mechanisch. Eier mit Speck … es war eine Schande, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
Jetzt starrten lange Reihen winziger Augen den Major an, als wollten sie ihn anklagen, nicht nur dafür, dass er am Leben war, sondern auch dafür, dass er frühstücken wollte. Mit würdevoller Geste hatte Edward die beiden Seiten des Buches ergriffen und sie an unsichtbaren Scharnieren auf- und dann noch weiter ausgeklappt, und Reihe um Reihe waren die Fotografien junger Männer zum Vorschein gekommen, die meisten davon in Uniform. Nicht alle dieser Aufnahmen waren gut. Sie waren verschwommen, sie bleichten bereits aus, sie passten nicht zusammen; ein oder zwei der jungen Männer legten ein unpassendes Lachen an den Tag, andere, die in die Sonne schauen mussten, sahen aus, als litten sie bereits Höllenqualen. Die meisten aber präsentierten sich schmuck in ihrer Uniform, und der Major konnte sich vorstellen, wie sie dagesessen hatten, ernst und streng, als säßen sie für ein Ölportrait Modell. Vielen hatte die Starre der langen Belichtungszeit das Leben dermaßen ausgetrieben, dass man sie kaum noch auseinanderhalten konnte.
Mit Grabesstimme sagte Edward: »Sie gaben ihr Leben für den König, für ihr Land und für uns. Lasst uns ihrer einen Moment lang schweigend gedenken.« Stille senkte sich herab. Die einzigen Laute, die zu hören waren, waren Murphys gleichmäßig keuchender Atem und ein leises Gurgeln der Verdauungssäfte.
Derweil forschte der Major mit den steifen Fingern seiner Erinnerung wieder einmal in der Vergangenheit, hoffte, dass er eine Wärme, eine Gefühlsregung zu fassen bekam, den Namen eines toten Freunds vielleicht, der den Anfang einer Trauer bedeuten konnte, den Anfang vom Ende der Trauer. Doch jetzt, als er hinter seinem Stuhl am Frühstückstisch stand, stellten sich nicht einmal die toten Gesichter ein, die ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen heimsuchten. Nur das kalte, beständige Staunen, das man etwa empfinden mochte, wenn man von zu Hause träumte und unter Fremden erwachte. Er knirschte mit den Zähnen beim Anblick dieses stummen Vorwurfs, der starren Augen dieses
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