Troubles (German Edition)
die See war ruhig. Als es dunkler wurde, hallten einsame, herzzerreißende Schreie aus einiger Entfernung herüber – aber das waren nur die Pfauen, die an diesem Tag niemand gefüttert hatte und die sich nun zur Nacht auf den Ästen einer Eiche auf der obersten Terrasse niederließen.
Immer weiter stieg die Flut. Bald nachdem der Mond aufgegangen war, kam ein prustendes, gurgelndes Geräusch von ein wenig strandabwärts, doch schon senkten sich wieder Stille und Frieden herab.
Der säuselnde Schaum der Brandung war immer noch ein paar Fuß vom Kopf des Majors entfernt, als die Flut ihren höchsten Punkt erreichte, und bald zog sie sich wieder zurück. Inzwischen hatte der Major sein Bewusstsein halb wiedererlangt. Fragen, nicht zu begreifen und nicht zu bewältigen, standen in den Schatten. Wieso steckte er bis zum Hals im Sand? Hatte man ihn hier begraben, damit er ertrinken sollte? Und sein Verstand wanderte, hüpfte hierhin und dorthin wie ein losgelassener Ballon, kam zu den Schützengräben – zu irgendeinem Gefecht in einem gottverlassenen Wald ohne Namen.
Im ersten Morgenlicht kamen Leute und gruben ihn aus, und wieder kehrte ein wenig Bewusstsein zurück. Sie gruben vorsichtig, als wollten sie vermeiden, dass sie seine gefesselten Handgelenke mit dem Spaten verletzten. Mit den Händen fühlten sie, wo der schwere Stein auf seinen Waden lag, und nahmen ihn behutsam fort. Dann hoben sie auch den Major aus seiner Grube und legten ihn auf den Sand.
Inzwischen war sein Körper vollkommen taub. Er spürte überhaupt nichts mehr. Doch die Bewegung seiner Gliedmaßen von außen hatte einen entsetzlichen Krampf verursacht, und es kam ihm vor, als versuche sein Leib mit allen Kräften, sich selbst zu zerreißen. Jeder Muskel in seinem Bauch, seinen Beinen und Schultern hatte sich zusammengezogen und war hart wie Marmor, kämpfte mit seinem Gegenspieler darum, wer Knochen und Sehnen zerreißen durfte. Doch zugleich war sein Verstand vollkommen friedlich. Es war, als gehöre dieser Körper ihm gar nicht mehr. Als er dort ruhig auf dem Sand lag, ergriff ihn eine große Gelassenheit – das Gefühl, das man in den ersten Augenblicken nach einem schweren Unfall haben mochte, wenn einem zu Bewusstsein kommt, dass man nicht mehr selbst für sich verantwortlich ist. Andere kümmerten sich um ihn. Er konnte ihre Stimmen schwach von weiter unten am Strand hören, wo sie versuchsweise den Spaten in den Sand steckten. Dann begannen sie mit dem Ausheben eines neuen Lochs.
Jetzt dachte der Major an Sarah … und an die Liebe. Und dann, ohne dass ihm ein Übergang bewusst war, kam ihm Ovid in den Sinn, ein Autor, den er ohne Vergnügen in der Schule gelesen hatte. Ein seltsamer Gedanke, dass manche Leute eine Ovid-Lektüre tatsächlich so sehr genossen wie zum Beispiel die Geschichte von T.C. Bridges, die im vergangenen Jahr als Fortsetzungsroman in der
Weekly Irish Times
erschienen war. So eine bezaubernde Geschichte! Eine Episode darin hatte ihm besonders gefallen: Der jugendliche Held gesteht seiner Freundin, dass er zwar nach außen hin ein Gentleman ist, in Wirklichkeit aber ein Dieb, und dass sie ihn folglich verachten müsse … Doch das Mädchen (und was war das eine schöne Überraschung gewesen, nicht nur für den jungen Mann in der Geschichte, sondern auch für den Major) … das Mädchen hält zu ihm, sagt ihm stolz, dass sie ihn liebt und nicht glauben kann, dass er zu einem Diebstahl fähig ist. (Und tatsächlich war es bei diesem Diebstahl auch nicht mit rechten Dingen zugegangen. Jemand hatte ihn niedergeschlagen oder hypnotisiert, und er konnte sich an die Tat nicht mehr erinnern.) Jedenfalls verdammt anständig von dem Mädchen, dass sie zu ihm hielt. Sarah hätte natürlich zweifellos in ihrer Lage dasselbe getan. Und mit diesem angenehmen Gedanken schlossen sich die salzverkrusteten Lider des Majors und er schlief ein oder verlor das Bewusstsein – man hätte nicht leicht sagen können welches von beiden.
Als er erwachte, war er wiederum bis zum Hals im Sand eingegraben. Die Sonne war aufgegangen und schien ihm geradewegs in die Augen, tanzte auf der Brandung nicht weit von ihm. Das Licht blendete ihn, und für eine Weile war das einzige, was er spürte, der Schmerz in seiner Netzhaut. Als er sich jedoch besser daran gewöhnt hatte, merkte er, dass er nicht mehr allein war. Kaum einen Meter links von ihm schaute ein anderer Kopf aus dem Sand, auf einer Höhe mit ihm. Er erkannte den Burschen gleich: es
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