Trügerische Ruhe
Erschöpft saß sie am
Bett des Jungen und blickte ihn schweigend an. Sie versuchte zu überlegen, was ihr entgangen sein könnte. Die Lumbalpunktion war normal gewesen, ebenso die chemische Zusammensetzung des Bluts und das EEG. Die Computertomographie hatte lediglich die Schleimzyste in der rechten Kieferhöhle gezeigt – wahrscheinlich zurückzuführen auf eine chronische Allergie. Allergien waren wohl auch die Erklärung für die eine Abweichung bei den weißen Blutkörperchen: den hohen Prozentsatz an Eosinophilen. Wie bei Taylor Darnell, fiel ihr plötzlich ein.
Scotty regte sich in seinem Valiumschlaf und öffnete die Augen. Er blinzelte ein paarmal, dann richtete sich sein Blick auf Claire.
Sie schaltete das Licht aus und wollte gehen. Noch in der Dunkelheit konnte sie das Glänzen der auf sie gerichteten Augen erkennen.
Dann bemerkte sie, daß es gar nicht seine Augen waren, die da leuchteten.
Langsam ging sie zum Bett zurück. Sie konnte die weiße Bettwäsche unter seinem Kopf sehen, den dunkleren Umriß seines Kopfes vor dem Hintergrund des Kissens. Auf seiner Oberlippe schimmerte ein heller Fleck von phosphoreszierendem Grün.
»Setz dich, Noah«, sagte Fern Cornwallis. »Es gibt da etwas, worüber wir reden müssen.«
Noah blieb zögernd an der Tür stehen; es widerstrebte ihm, das Büro der Rektorin zu betreten. Feindesland. Er wußte nicht, warum man ihn aus der Klasse geholt und zu ihr bestellt hatte, aber nach Miss C.’s Gesichtsausdruck zu urteilen, konnte es vermutlich nichts Gutes sein.
Die anderen Schüler bei der Bandprobe hatten ihn mit abschätzenden Blicken bedacht, als die Nachricht über die knackende Haussprechanlage gekommen war: Noah Elliot, Miss Cornwallis möchte dich in ihrem Büro sprechen. Sofort. Er hatte deutlich gespürt, wie alle ihn anstarrten, als er sein Saxophon abgestellt hatte und durch das Labyrinth von Stühlen und Notenständern zur Tür gegangen war. Er wußte, daß seine Klassenkameraden sich fragten, was er wohl angestellt hatte.
Er hatte keine Ahnung.
»Noah?« sagte Miss C. und wies auf den Stuhl.
Er setzte sich. Er sah nicht sie an, sondern den Schreibtisch, der geradezu unglaublich makellos war. Kein menschliches Wesen hatte so einen Schreibtisch.
»Ich habe heute etwas mit der Post bekommen«, begann sie.
»Ich muß dich dazu etwas fragen. Ich weiß nicht, wer es geschickt hat. Aber ich bin froh, daß der- oder diejenige es getan hat, denn ich muß es wissen, wenn einer meiner Schüler besonderen Beistand nötig hat.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Miss C.«
Anstelle einer Antwort schob sie ihm einen fotokopierten Zeitungsausschnitt zu. Er warf einen Blick darauf und spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Der Artikel war aus der Baltimore Sun: EIN JUGENDLICHER BEI UNFALL MIT GESTOHLENEM WAGEN SCHWER VERLETZT. VIER JUGENDLICHE IN POLIZEIGEWAHRSAM.
Miss Cornwallis sagte: »Du bist von Baltimore hierhergezogen, nicht wahr?«
Noah schluckte. »Ja, Ma’am«, flüsterte er.
»Der Artikel nennt keine Namen. Aber es war eine Notiz beigefügt, in der mir nahegelegt wird, mit dir über diese Sache zu sprechen.« Sie blickte ihn unverwandt an. »Es geht da um dich, oder?«
»Wer hat das geschickt?«
»Das spielt jetzt keine Rolle.«
»Es ist einer von diesen Reportern.« In einer plötzlichen Aufwallung von Zorn warf er den Kopf zurück. »Sie sind mir nachgeschlichen und haben mir Fragen gestellt. Und jetzt versuchen sie, mir eins auszuwischen!«
»Weswegen?«
»Weil ich nicht mit ihnen rede.«
Sie seufzte. »Noah, gestern sind die Autos von drei Lehrern aufgebrochen worden. Weißt du irgend etwas darüber?«
»Sie suchen doch nur jemanden, dem Sie die Schuld in die Schuhe schieben können. Stimmt’s?«
»Ich frage nur, ob du etwas über diese Autos weißt.«
Er starrte ihr in die Augen. »Nein«, sagte er und stand auf. »Kann ich jetzt gehen?«
Sie glaubte ihm nicht; er konnte es an ihrem Gesicht sehen. Aber es gab nichts, was sie noch hätte sagen können. Sie nickte. »Geh wieder in deine Klasse.«
Er ging zur Tür hinaus, vorbei an der vorwitzigen Schulsekretärin, und stürmte hinaus auf den Flur. Doch anstatt zur Bandprobe zurückzugehen, floh er nach draußen und setzte sich zitternd auf die Stufen vor dem Eingang. Er hatte keine Jacke an, aber er spürte die Kälte kaum; zu sehr mußte er mit sich kämpfen, um nicht zu weinen.
Ich kann auch hier nicht mehr leben, dachte er. Ich kann nirgendwo leben. Egal wohin
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