Trügerische Ruhe
zu.
»Nun, jede Substanz kann entweder als Flüssigkeit oder als Gas existieren. Wenn Sie zum Beispiel Wasser erhitzen, entsteht Dampf – das ist die Gasphase von H2O.«
»Gut, so weit kann ich Ihnen folgen.«
»In dieser Maschine befindet sich eine gewundene Kapillarröhre – ein sehr langer und sehr dünner Schlauch, der ausgestreckt ungefähr so lang wie ein halbes Fußballfeld wäre. Diese Röhre ist mit einem inerten Gas gefüllt, das mit keiner Substanz reagiert. Jetzt mache ich folgendes: Ich injiziere die Probe, die ich untersuchen will, in diese Öffnung hier. Sie wird erhitzt und verdampft zu einem Gasgemisch, und die verschiedenen Arten von Molekülen bewegen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit die Röhre entlang, je nach ihrer Masse. Auf diese Weise werden sie getrennt. Wenn sie am anderen Ende der Röhre herauskommen, strömen sie durch einen Detektor, und das Ergebnis wird auf Endlospapier ausgedruckt. Die Zeit, die jede einzelne Substanz bis zum Austritt braucht, nennt man Retentionszeit. Wir kennen bereits die Retentionszeiten für Hunderte von verschiedenen Drogen und Toxinen. Mit Hilfe dieses Tests können wir also erkennen, ob eine bestimmte Substanz im Blut eines Patienten vorhanden ist.« Er nahm eine Spritze und bohrte die Nadel in die Öffnung. »Achten Sie auf den Bildschirm. Passen Sie auf, was geschieht.« Anthony drückte auf die Spritze.
Auf dem Computerbildschirm erschien eine unebene Linie. Sie beobachteten die Aufzeichnung eine Weile, doch Claire erschien es wie bloßes Rauschen – geringfügige, unspezifische Ausschläge, verursacht von der biochemischen Suppe, aus der das menschliche Plasma besteht.
»Haben Sie nur Geduld«, sagte Anthony. »Es zeigt sich nach zirka einer Minute und zehn Sekunden.«
»Was zeigt sich?« fragte Claire.
Er wies auf den Monitor. »Das.«
Claire sah gebannt hin, als die Linie plötzlich scharf nach oben ausschlug, um gleich darauf wieder in das unebene Grundmuster zurückzufallen. »Was war das?« fragte sie.
Anthony ging zum Drucker, wo das Ergebnis zeitgleich auf Papier aufgezeichnet wurde. Er riß den Bogen ab und breitete ihn auf dem Labortisch vor Claire und Lincoln aus.
»Dieser Peak«, sagte er, »ist etwas, das ich nicht identifizieren kann. Die Retentionszeit läßt es zur Klasse der Steroide zugehörig erscheinen, aber bestimmte Vitamine und endogene Testosterone ergeben einen ähnlichen Ausschlag. Man brauchte ein besser ausgestattetes Labor, um es exakt zu bestimmen.«
»Sie erwähnten endogene Testosterone«, sagte Claire.
»Könnte es sich um ein anaboles Steroid handeln? Etwas, das ein Teenager nehmen könnte?« Sie sah Lincoln an. »Das würde die Symptome erklären. Bodybuilder benutzen manchmal Steroide, um ihre Muskelpakete hochzuzüchten. Unglücklicherweise gibt es Nebeneffekte, zu denen unter anderem unkontrollierbare Aggressionen gehören. Man nennt das Roid Rage. «
»Das ist eine Überlegung wert«, sagte Anthony. »Irgendein anaboles Steroid. Jetzt sehen Sie sich mal das da an.«
Er ging zu seinem Schreibtisch und holte einen anderen Bogen Millimeterpapier hervor.
»Was ist das?«
»Es ist Taylor Darnells Gaschromatogramm, von dem Tag, an dem er eingeliefert wurde.« Er legte das Blatt neben Scotty Braxtons Resultat. Die Muster waren identisch. Ein einzelner, klar definierter Peak bei einer Minute, zehn Sekunden.
»Was immer diese Substanz sein mag«, meinte Anthony, »sie befindet sich im Blut beider Jungen.«
»Das Drogen-Screening für Taylors Blut war angeblich negativ.«
»Ja, ich habe das Referenzlabor deswegen angerufen. Sie haben unsere Ergebnisse in Frage gestellt. Als ob ich mir diesen Peak eingebildet hätte oder so was. Ich gebe zu, das hier ist ein älteres Gerät, aber diese Ergebnisse sind jederzeit reproduzierbar.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Mit einem Biochemiker von Anson Biologicals.«
Claire betrachtete die beiden Aufzeichnungen; wenn man die Bögen übereinanderlegte, waren die Linien praktisch deckungsgleich. Zwei Jungen mit dem gleichen absonderlichen Verhalten. Die gleiche unidentifizierbare Substanz in ihren Blutkreisläufen. »Schicken Sie ihnen Scotty Braxtons Blut«, sagte sie. »Ich möchte wissen, was hinter diesem Peak steckt.«
Anthony nickte. »Ich habe hier schon das Formular. Sie müssen nur unterschreiben.«
Um zwei Uhr morgens hatte Claire endlich jede Röntgenaufnahme und jede Blutprobe überprüft, doch sie war der Lösung keinen Schritt näher.
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