Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Stift in ihrer Hand, und sie kritzelte ›okay‹ auf ihre Tafel. Jack legte den Kopf schräg, las, was sie geschrieben hatte, warf ihr ein schwaches Lächeln zu und nickte kurz. Es gab irgendwelche untergründigen Spannungen zwischen Jack und seiner Schwägerin. Avery fragte sich, worin sie wohl bestanden.
»Tate hat gesagt, du hättest heute sogar schon ein paar Worte sagen können«, meinte er. »Das ist wirklich eine tolle Neuigkeit.
Wir freuen uns alle darauf, wieder zu hören, was du zu sagen hast.«
Avery wußte, daß Tate sich nicht über das freuen würde, was sie zu sagen hatte. Er würde wissen wollen, warum sie nicht ihren Namen auf die Tafel geschrieben hatte und weshalb sie ihn in dem Glauben gelassen hatte, sie sei seine Frau.
Das hätte sie selbst auch gern gewußt.
Der Kummer darüber trieb ihr plötzlich die Tränen in die Augen. Jack stand sofort auf und zog sich zur Tür zurück. »Nun, es wird spät, und ich habe noch einen langen Heimweg vor mir. Viel Glück, Carole. Kommst du auch, Tate?«
»Nein, noch nicht, aber ich begleite dich noch hinaus.« Er versprach ihr, in wenigen Minuten zurück zu sein, und verließ mit seinem Bruder das Zimmer.
Als sie an der getönten Glastür der exklusiven Klinik angekommen waren, zögerte Jack.
»Ach, äh, Tate, ist dir nicht auch etwas Seltsames aufgefallen, wenn sie schreibt?«
»Seltsam?«
Jack trat hinaus, hielt aber die Tür noch mit einer Hand fest, damit sie nicht hinter ihm zufiel.
»Carole ist doch Rechtshänderin, oder?«
»Ja.«
»Warum schreibt sie dann mit der linken Hand?« Sobald Jack die beunruhigende Frage gestellt hatte, zuckte er auch schon mit den Schultern. »Ich dachte nur, daß das irgendwie eigenartig ist.« Er ließ die Hand sinken, und die Tür schloß sich langsam. »Wir sehen uns dann zu Hause, Tate.«
Tate sah seinem Bruder nach, bis jemand auf die Tür zukam. Nachdenklich kehrte er in Caroles Zimmer zurück.
Während Tate fort war, dachte Avery darüber nach, wie er sich verändert hatte. Schon seit mehr als einer Woche hatte sie den Unterschied in seinem Verhalten bemerkt. Er besuchte sie nach wie vor regelmäßig, aber nicht mehr täglich. Anfangs war sie davon ausgegangen, daß das durch seine Beschäftigung mit dem Wahlkampf zu erklären war.
Aber er wirkte oft zurückhaltend und launisch und sprach eher einsilbig mit ihr. Und er blieb nie sehr lange.
Je deutlicher sich Caroles Gesichtszüge ausbildeten, desto vorsichtiger wurde Tate.
Er hatte auch Mandy nicht mehr mitgebracht. Sie schrieb ihren Namen mit einem Fragezeichen auf ihre Tafel und zeigte sie ihm. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Ich hatte das Gefühl, daß es ihr eher schadet als guttut. Wenn du wieder zu Hause bist, wirst du soviel Zeit mit ihr verbringen können, wie du willst.«
Seine gefühllosen Worte verletzten sie. Mandys Besuche waren zu Höhepunkten in ihrem eintönigen Leben geworden. Andererseits war es vielleicht wirklich besser, wenn sie nicht mehr stattfanden, denn das Kind wuchs ihr ans Herz und sie wollte nichts lieber, als der Kleinen durch diese Krise zu helfen. Da sie diese Gelegenheit nicht haben würde, wäre es das beste, möglichst bald alle Bindungen zu lösen.
Die Zuneigung, die sie zu Tate entwickelt hatte, war vielfältiger und würde entschieden schwerer zu verdrängen sein, wenn sie seine Welt verließ und wieder in die ihre zurückkehrte.
Aber wenigstens etwas konnte sie mitnehmen: die Einzelheiten einer aufsehenerregenden Story über einen mit dem Tode bedrohten Senatorenkandidaten aus der Perspektive einer Insiderin.
Averys journalistische Neugier war erwacht. Was mochte in der Ehe der Rutledges schiefgelaufen sein? Warum hatte Carole ihren Mann ermorden lassen wollen? Sie mußte alle möglichen Theorien gedanklich durchspielen, bis sie die Wahrheit herausfand. Und wenn sie diese Wahrheit veröffentlichte, würde ihr das vielleicht aus dem beruflichen Tief helfen, in das sie sich selbst gebracht hatte. Und doch hinterließ es einen faden Geschmack in ihrem Mund, wenn sie sich vorstellte, wie sie diese Wahrheit veröffentlichen würde.
Tate Rutledges Schwierigkeiten gehörten jetzt ebenso zu ihr wie zu ihm. Sie konnte sich nicht einfach abwenden. Aus irgendeinem eigenartigen Grund, der sich nicht erklären ließ, fühlte sie sich verpflichtet, Caroles Fehler wiedergutzumachen.
Das eine Mal, als sie eine mitfühlende Hand zu ihm ausgestreckt hatte, hatte er sie heftig zurückgewiesen. In der
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