Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Zeitungen.
»Ich verstehe deine Tränen nicht, Carole. Dein Gesicht sieht phantastisch aus. Du hättest ums Leben kommen können, um Himmels willen. Und Mandy auch. Kannst du nicht einfach glücklich sein, daß du noch lebst?«
Nach diesem Ausbruch riß er sich zusammen, holte tief Luft und verdrängte seinen Zorn. »Entschuldige bitte. Ich weiß, daß du viel leiden mußtest. Aber alles hätte noch viel schlimmer kommen können. Für uns alle.«
Er griff nach seiner Sportjacke, die er oft zu Jeans trug, und zog sie an. »Also, bis dann.«
Er verließ sie ohne ein weiteres Wort.
Avery starrte noch eine ganze Weile die leere Tür an. Dann kam eine Krankenschwester und half ihr, sich fürs Bett fertigzumachen. Sie hatte inzwischen den Rollstuhl überwunden und benutzte Krücken wegen ihres gebrochenen Beins, war aber immer noch recht ungeschickt damit. Es tat ihr an den Händen weh, sie festzuhalten. Als sie schließlich allein war, war sie erschöpft.
Ihr Geist war genauso müde wie ihr Körper, und doch konnte sie nicht schlafen. Sie versuchte sich den Ausdruck auf Tates Gesicht vorzustellen, wenn er die Wahrheit erfuhr. Sein Leben würde noch einmal umgekrempelt werden, und das in einem Augenblick, in dem er am verletzlichsten war.
Als ihr der Ausdruck >verletzlich< in den Sinn kam, schoß ihr ein neuer, furchtbarer Gedanke durch den Kopf. Sobald die Wahrheit ans Licht kam, war auch sie gefährdet.
Warum hatte sie daran nicht schon früher gedacht? Wenn sie sich als Avery Daniels, als Reporterin vom Fernsehen, zu erkennen gab, war der Schuldige gezwungen, etwas gegen sie zu unternehmen.
Und soweit sie aus der tödlichen Berechnung in der Stimme des Attentäters schließen konnte, würde er keinen Augenblick zögern, sie beide zu ermorden.
Mein Gott, was sollte sie tun? Wie konnte sie sich und Tate schützen? Wenn sie nur wirklich Carole wäre, dann könnte sie ...
Doch noch bevor der Gedanke zu Ende gedacht war, erhob eine andere Stimme in ihr Einspruch. Das ging nicht. Tate würde es ebenso merken wie der Attentäter.
Aber wenn es ihr gelang, die Rolle gerade so lange zu spielen, bis sie den Täter kannte, dann würde sie Tates Leben retten können.
Und doch war es unvorstellbar, einfach in die Rolle einer anderen Frau zu schlüpfen. Und was war mit ihrem eigenen Leben? Offiziell gab es Avery Daniels nicht mehr. Niemand würde sie vermissen. Sie hatte keinen Ehemann, keine Kinder, keine Familie.
Ihre Karriere war auf einem Tiefpunkt. Sie hatte sich vor den Augen aller zur Versagerin gestempelt. Bei KTEX in San Antonio zu arbeiten war, wie zu jahrelangem Arbeitslager verurteilt zu sein. Die Fernsehstation hatte zwar einen guten Ruf, und sie war Irish auch auf ewig dankbar, daß er sie angestellt hatte, als ihr niemand sonst auch nur einen Vorstellungstermin geben wollte, dennoch war die Arbeit dort wie eine Verbannung nach Sibirien.
Aber jetzt war ihr eine sensationelle Story in den Schoß gefallen. Wenn sie Mrs. Tate Rutledge wurde, konnte sie eine Dokumentation über den Wahlkampf eines Bewerbers um den Senatorenposten und über ein geplantes Attentat schreiben. Sie würde die Story nicht einfach nur zu Papier bringen, sie würde sie selbst erleben.
Was konnte es für eine bessere Möglichkeit geben, um wieder zur Spitzengruppe der Reporter aufzusteigen? Wie viele Journalisten hätten für diese Chance ihre rechte Hand gegeben?
Sie lächelte matt. Ihre rechte Hand hatte sie nicht hergeben müssen, aber ihr Gesicht, ihr Name und ihre Identität waren schon dahin. Doch das Leben eines Mannes zu retten und beruflich wieder auf Erfolgskurs zu steuern, würde sie dafür entschädigen.
Und wenn die Wahrheit schließlich ans Licht kam, konnte ihr niemand vorwerfen, daß sie jemanden ausgenutzt hätte. Noch größer als der Wunsch, ihre berufliche Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, war der, Tates Leben zu retten.
Die damit verbundenen Risiken waren ungeheuer, aber sie kannte nicht einen Spitzenreporter, der nicht alles aufs Spiel gesetzt hätte, um dahin zu kommen, wo er war. Ihr Vater war während seines Berufsalltags tagtäglich in Gefahr gewesen. Sein Mut war durch einen Pulitzerpreis honoriert worden. Wenn er für seine Stories alles riskiert hatte, warum konnte man das nicht auch von ihr erwarten?
Dennoch war ihr klar, daß sie eine ganz sachliche, berufliche Entscheidung zu treffen hatte. Sie mußte sie pragmatisch angehen, nicht emotional. Sie würde die Rolle von Tates Frau zu spielen
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