Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
versuchen, und dazu gehörte alles, was eine solche Beziehung bedeutete. Sie würde bei seiner Familie leben, unter ständiger Beobachtung von Leuten, die Carole genau kannten.
Diese enorme Herausforderung war einschüchternd, aber auch unwiderstehlich. Sie würde Tausende von Fehlern machen — wie zum Beispiel das Schreiben mit der falschen Hand. Aber sie hatte immer schon einen Hang zur Improvisation gehabt und würde alle Hindernisse überwinden.
Konnte das funktionieren? Wollte sie das Wagnis eingehen?
Sie schob die Decke zur Seite, stützte sich auf ihre Krücken und humpelte ins Badezimmer. Unter dem grellen, gnadenlosen Licht der Leuchtröhre starrte sie das Gesicht im Spiegel an und verglich es mit dem Foto von Carole, das an die Wand gehängt worden war, um ihr Mut zu machen.
Die Haut war rosig und weich wie ein Babypopo, genau wie Dr. Sawyer es versprochen hatte. Sie zog die Lippen zurück und betrachtete die Zahnimplantate, die genau wie Carole Rutledges Zähne aussahen. Sie strich über das dichte, kurze, dunkle Haar. Wenn man nicht genau hinsah, waren keine Narben zu erkennen. Mit der Zeit würden alle Spuren verblassen.
Sie erlaubte sich nicht den Luxus, zu trauern, auch wenn Bedauern und Sehnsucht nach ihrem eigenen, wohlvertrauten Spiegelbild an ihrem Herzen nagten. Dies war jetzt ihr Schicksal. Sie
hatte ein neues Gesicht. Das konnte der Fahrschein zu einem neuen Leben werden.
Morgen würde sie die Identität der Carole Rutledge voll und ganz annehmen.
Avery Daniels hatte nichts mehr zu verlieren.
KAPITEL 11
Die Krankenschwester betrachtete sie zufrieden von oben bis unten. »Sie haben wunderbares Haar, Mrs. Rutledge.«
»Danke«, sagte Avery nachdenklich. »Soweit man das überhaupt schon so nennen kann.«
Während der sieben Tage, die Tate fort gewesen war, hatte sie ihr Sprechvermögen völlig wiedererlangt. Er mußte jetzt jeden Augenblick kommen, und sie war nervös.
»Nein«, sagte die Krankenschwester, »das meine ich ja gerade. Es gibt nicht viele Leute, denen so kurzes Haar gut steht. An Ihnen ist es phantastisch.«
Avery sah in den Handspiegel, zupfte an den Härchen über ihrer Stirn und meinte zweifelnd: »Ich hoffe es.«
Sie saß in einem Stuhl, das rechte Bein auf einen Hocker gestützt. Ein Stock war an den Stuhl gelehnt.
Die Schwestern waren genauso aufgeregt, weil Tate nach einer Abwesenheit von mehr als einer Woche wiederkommen würde. Sie hatten sich zurechtgemacht wie die Braut für den Bräutigam.
»Er ist da«, verkündete eine von ihnen mit einem Bühnenflüstern durch den Türspalt. Die Schwester neben ihr drückte Averys Schulter. »Sie sehen toll aus. Er wird umfallen.«
Er fiel nicht wirklich um, war aber doch einen Augenblick sprachlos. Sie sah, wie sich seine Pupillen weiteten, als er sie sah, in ganz normaler Kleidung — Caroles Kleidung —, die Zee ihr vor ein paar Tagen gebracht hatte.
»Hallo, Tate.«
Beim Klang ihrer Stimme wirkte er noch überraschter.
Ihr Herz machte einen Satz. Er wußte es!
Hatte sie schon wieder einen Fehler gemacht? Sprach ihn Carole
vielleicht immer mit einem Kosenamen an? Sie hielt den Atem an und wartete darauf, daß er mit dem Finger auf sie zeigen und brüllen würde: »Betrügerin!«
Statt dessen räusperte er sich unbehaglich und erwiderte ihren Gruß: »Hallo, Carole.«
Sie atmete langsam und leise aus, um nicht zu verraten, daß sie die Luft angehalten hatte.
Er kam weiter ins Zimmer und legte einen Strauß Blumen und eine Schachtel auf den Nachttisch. »Du siehst sehr gut aus.«
»Danke.«
»Du kannst sprechen«, sagte er mit einem unsicheren Lachen.
»Ja. Endlich.«
»Deine Stimme klingt anders.«
»Das hatten sie uns ja angekündigt, erinnerst du dich?« sagte sie schnell.
»Ja, aber ich hätte nicht erwartet, daß...« Er strich mit den Fingern über seine Kehle. »... sie so rauh klingen würde. Es gefällt mir.«
Er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Wenn alles zwischen ihnen so wäre, wie es sein müßte, würde er jetzt vor ihr knien und ihr neues Gesicht abtasten wie ein Blinder und seine Liebe zum Ausdruck bringen. Doch er blieb auf Distanz.
Wie üblich trug er Jeans. Sie waren gebügelt und gepflegt, aber alt und weich genug, um sich an seinen Unterkörper zu schmiegen wie ein Handtuch. Avery wollte sich nicht bei ihrer weiblichen Neugierde erwischen lassen, also heftete sie den Blick entschlossen auf sein Gesicht.
Sie hob nervös eine Hand an die Brust. »Warum starrst du mich so
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