Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
abzuwenden, aber er umfaßte mit der freien Hand ihr Kinn.
»Was ist los, Carole? Fühlst du dich jetzt besonders groß, da Tate wirklich im Rennen liegt? Das ist ein Witz. Rory Dekker wird ihm in den Hintern treten, verstehst du?« Er drückte seine Finger zusammen, bis ihr Kinn weh tat. Sie wimmerte vor Schmerz und Zorn.
»Du glaubst wohl, daß er in Washington landet, und hängst dich deshalb an ihn, stimmt’s? Heute abend hast du einfach durch mich durchgesehen. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, du Biest?«
Er preßte ihr einen harten Kuß auf die Lippen, wobei er ihren frischen Lippenstift verschmierte. Ihr wurde schlecht, als er seine Zunge zwischen ihre Lippen drängte. Sie ballte die Fäuste und stieß mit aller Kraft gegen seine Schultern. Sie versuchte, ein Knie zwischen seine Beine zu stoßen, aber ihr schmaler Rock verhinderte das. Er war kräftig, und sie konnte sich nicht wehren. Er nahm ihr völlig den Atem. Sie fühlte, wie sie schwächer wurde und beinahe die Besinnung verlor.
Zuerst hörte sie schwache, dann immer deutlichere Stimmen. Er ebenso. Er stieß sie von sich und lächelte anzüglich. »Du sollst lieber nicht vergessen, wer deine Freunde sind«, höhnte er. Dann verschwand er, nur wenige Sekunden bevor zwei Frauen um die Ecke bogen.
Ihr Gespräch verstummte, als sie Avery sahen. Sie drehte ihnen schnell den Rücken zu und griff nach dem Telefonhörer, als wolle sie gerade jemanden anrufen. Die Frauen gingen an ihr vorbei zur Damentoilette.
Ein Fingernagel brach ihr ab, als sie an Caroles Abendtäschchen nach dem Verschluß suchte, um sich ein Papiertaschentuch herauszuholen. Damit wischte sie sich die Reste des Lippenstiftes und des widerlichen Kusses ab, den sie von Caroles ehemaligem Liebhaber hatte ertragen müssen. Dann streckte sie sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und tupfte sich die tränenfeuchten Augen mit dem Taschentuch ab. Während des Handgemenges hatte sich ein Ohrring gelöst, den sie wieder befestigte.
Die zwei Frauen kamen zurück und sprachen leise miteinander. Avery murmelte etwas in den Hörer und fühlte sich erbärmlich, weil sie ein solches Theater spielte.
Aber schließlich war sie inzwischen sehr gut im Theaterspielen geworden, oder? Sie hatte sogar einen von Caroles Liebhabern getäuscht.
Als sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie es wieder wagen konnte, sich der Menge zu stellen, hängte sie den Hörer auf und drehte sich um. In diesem Augenblick kam eilig ein Mann um die Ecke und prallte mit ihr zusammen. Da sie nur die Vorderseite seines Smokings sah, stieß sei einen ängstlichen Schrei aus.
»Carole, was, um Himmels willen, ist los mit dir?«
»Täte!«
Avery sank gegen ihn und schlang die Arme um seine Taille. Dann legte sie die Wange an sein Revers und schloß die Augen, um die Vorstellung von diesem anderen Mann zu verdrängen.
Zögernd legte Tate seine Arme um sie. Seine Hände strichen über ihren Rücken.
»Was ist passiert? Eine Frau hat mich beiseite genommen und gesagt, du sähest nicht wohl aus. Ist dir schlecht?«
Er hatte sofort das Rampenlicht verlassen und war zu ihr gekommen, obwohl sie, seine Frau, ihn betrogen hatte. Egal welche Skrupel sie früher dagegen gehabt hatte, mit dem Mann einer anderen Frau zu schlafen, sie verschwanden in diesem Augenblick. Carole hatte ihn nicht verdient.
»O Tate, es tut mir leid.« Sie hob das Gesicht.
»Warum?« Er faßte sie kräftig an den Schultern und schüttelte sie leicht. »Wirst du mir jetzt bitte sagen, was los ist?«
Da sie ihm die Wahrheit nicht offenbaren konnte, suchte sie nach einer logischen Erklärung. »Ich glaube, ich bin einfach noch nicht soweit, in einer solchen Menschenmenge zurechtzukommen. Mich hat das alles irgendwie erdrückt.«
»Vorher schien aber doch alles gut zu sein.«
»Das war auch so. Es hat mir sogar Spaß gemacht. Aber plötzlich fühlte ich mich von all den Leuten bedrängt. Es war, als wäre ich wieder in alle die Verbände eingewickelt. Ich bekam keine Luft mehr, konnte nicht —«
»Ist gut, ich kann’s mir schon vorstellen. Du hättest mir etwas sagen sollen. Komm.« Er nahm ihren Arm.
»Wir brauchen deswegen nicht zu gehen.«
»Das Fest ist sowieso bald zu Ende. Und so sind wir vor den anderen beim Parkplatz.«
»Meinst du wirklich?« Sie wollte gern gehen. Sie könnte es nicht ertragen, diesem grinsenden Gesicht noch mal zu begegnen. Aber dieser Abend war ihre Prüfung. Sie wollte nicht riskieren, auf der Ranch bleiben zu
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