Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Er zuckte mit den Schultern. »So ist er eben. Er gerät nur selten außer Kontrolle.«
»Eismann«, murmelte sie.
»Hmm?«
»Ach nichts.«
Sie spielte mit ihrer Handtasche und überlegte, ob sie bei dem Thema bleiben sollte. Irish hatte ihr empfohlen, möglichst viel über alle in Erfahrung zu bringen. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, wichtige Fragen zu stellen, ohne den Gesprächspartner zu verschrecken. Und es war ihr des öfteren gelungen, jemanden zum Reden zu bringen. Sie wollte testen, ob sie ihre Fähigkeit noch besaß.
»Wie ist es mit Frauen?«
Tate legte die Zeitschrift weg, die er gerade in die Hand genommen hatte. »Was für Frauen?«
»Eddys Frauen.«
»Ich weiß nicht. Er redet mit mir nicht darüber.«
»Er redet mit seinem besten Freund nicht über sein Sexualleben? Ich dachte, alle Männer reden über ihre Erfolge.«
»jungen vielleicht. Männer haben das nicht nötig. Ich bin kein Voyeur und Eddy kein Exhibitionist.«
»Vielleicht ist er homosexuell?«
Tate sah sie eisig an. »Warum? Hat er dich abgewiesen?«
Die Tür öffnete sich. Die beiden wandten sich schuldbewußt
voneinander ab. Die Empfangsdame sagte: »Der Doktor wird jetzt gleich mit Mandy kommen.«
»Danke.«
Als sie gegangen war, beugte sich Avery vor. »Ich frage nach Eddy, weil deine Nichte sich ihm an den Hals wirft, und ich fürchte, daß sie sich dabei weh tun könnte.«
»Was? Fancy?« Er lachte ungläubig. »Fancy ist hinter Eddy her?«
»Das hat sie mir vor ein paar Tagen erzählt, als sie mit zerschlagenem Gesicht nach Hause gekommen ist.« Sein Lächeln verschwand. »Ja, wirklich, Tate. Sie hat sich irgend einen Cowboy aufgelesen, und sie haben gekifft. Als er keine Erektion bekam, beschuldigte er Fancy und verprügelte sie. Sind dir denn das blaue Auge und die geschwollene Lippe nicht aufgefallen?« Er schüttelte entsetzt den Kopf. »Na ja, mach dir nicht zuviel Vorwürfe — ihren Eltern auch nicht«, fuhr Avery bitter fort. »Fancy ist wie ein Möbelstück, zwar vorhanden, aber niemand achtet auf sie... außer wenn sie sich danebenbenimmt. Auf jeden Fall gilt ihr Interesse jetzt Eddy. Was denkst du, wie er reagieren wird?«
»Fancy ist doch noch ein Kind.«
Avery sah ihn zweifelnd an. »Du bist vielleicht ihr Onkel, aber blind bist du nicht.«
Er hob unbehaglich die Schultern. »Eddy hat während unserer Unizeit immer Frauen gehabt. Und während der Militärzeit in Vietnam war er bei Huren. Kein Homo.«
»Trifft er sich im Moment mit jemandem?«
»Er geht manchmal mit Frauen aus der Zentrale aus, aber das ist üblicherweise eine ganze Gruppe und rein platonisch. Ich habe keinen Klatsch darüber gehört, daß er mit einer schläft. Aber ein paar von ihnen würden sicher mitmachen, wenn er sie darum bittet. — Aber Fancy?« Tate schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube, er ist zu schlau, um sich mit einer Frau einzulassen, die zwanzig Jahre jünger ist als er, besonders nicht mit Fancy.«
»Hoffentlich hast du recht, Tate.« Und nach einer nachdenklichen Pause setzte sie noch hinzu: »Und nicht, weil ich selbst an ihm Interesse habe.«
Er hatte keine Zeit, noch etwas zu sagen, denn der Doktor öffnete die Tür und kam herein.
KAPITEL 25
»Sie sollten kein zu schlechtes Gewissen wegen der Vergangenheit haben, Mrs. Rutledge, das hilft Mandy jetzt auch nicht.«
»Aber wie soll ich reagieren? Sie haben ziemlich klargemacht, daß ich für Mandys verzögerte Entwicklung verantwortlich bin, Dr. Webster.«
»Sie haben einige Fehler gemacht. Das tun alle Eltern, aber Sie und Ihr Mann haben schon die Wende eingeleitet. Sie verbringen mehr Zeit mit Mandy, loben sie und kritisieren sie nur selten. Sie braucht diese Bestätigung.«
Tate runzelte die Stirn. »Das hört sich nicht nach viel an. Können wir nicht noch mehr tun?«
»Doch, das ist viel. Sie wären erstaunt, wie wichtig die Billigung der Eltern für ein Kind ist. Aber Sie könnten sie noch öfter um ihre Meinung fragen, damit sie sich entscheiden muß. Sie sollte dazu gebracht werden, ihre Gedanken auszusprechen. Es sieht so aus, als wäre das bisher anders gewesen.«
Er sah sie unter rostbraunen, buschigen Augenbrauen hervor an, die besser zu einem Viehtreiber mit Trommelrevolver an der Hüfte als zu einem Kinderpsychologen mit wohlwollendem Verhalten gepaßt hätten.
»Ihre Kleine hat eine sehr schlechte Meinung von sich.« Avery kaute auf der Unterlippe. »Manche Kinder zeigen geringes Selbstwertgefühl durch schlechtes Benehmen, weil
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