Trugschluss
bemerkte Bruhn und
kniff für einen kurzen Moment die Augen zusammen. Irgendwie gefährlich, dachte
Häberle, wie eine Raubkatze vor dem Angriff. »Wir können uns gegenwärtig kein
Spektakel erlauben«, fügte der Chef hinzu, »Sie wissen, alle sind ziemlich
nervös. Die Amis haben offenbar Erkenntnisse auf bevorstehende Anschläge.«
Bruhn war es wieder mal gelungen, seine
energische Art mit vorsichtigen Andeutungen zu verknüpfen, deren Brisanz trotzdem
jeder Gesprächspartner zu spüren glaubte.
Häberle stand auf, um sich der Tür ins
Sekretariat zuzuwenden. Vor Bruhn blieb er nochmal kurz stehen: »Die
Herrschaften in Stuttgart – Sie können denen sagen, der Häberle habe
verstanden.« Und im Hinausgehen fügte er hinzu: »Und denen in Berlin vielleicht
auch.«
53
Mittwoch, 3. Dezember 2003.
Die Nacht war frostig gewesen. Als Häberle schon kurz nach acht
wieder in der Geislinger Dienststelle eintraf, hatte Linkohr bereits die
›Geislinger Zeitung‹ gelesen. »Der Sander hat’s gnädig gemacht«, stellte er
zufrieden fest, »hat nur nochmal den Fall Blühm zusammengefasst.«
Häberle ließ sich in seinem Sessel nieder
und berichtete seinem jungen Kollegen von dem gestrigen Gespräch mit Bruhn.
»Der hat Druck gekriegt«, kommentierte der
junge Kollege.
Der Kommissar nickte. »Sieht ganz danach
aus. Entweder von der Politik oder von einem der ›Dienste‹.«
»Und jetzt?«, fragte Linkohr vorsichtig
nach.
»Weiter. Immer weiter, Herr Kollege. Ich
hab Bruhn versprochen, dass wir uns auf dem Boden der Realität bewegen werden.«
»Die Frage wird allerdings sein«, gab der
engagierte junge Mann zu bedenken, »wo die Realität aufhört und wo die Fiktion
anfängt …«
Häberle brauchte nicht zu antworten. Denn
in diesem Moment betrat der schnauzbärtige Kollege Markus Schmidt das Büro. Er
grüßte kurz und kam sogleich zur Sache: »Wir haben eine Nachricht, da wird euch
die Spucke wegbleiben.«
Häberle und Linkohr blickten einigermaßen
überrascht zu Schmidt auf.
»Mich kann so schnell nichts mehr schocken«,
meinte der Kommissar.
»Ein erstes Ergebnis der DNA-Analyse aus
dem Passat liegt uns vor«, begann Schmidt und lehnte sich mit verschränkten
Armen an die weiß getünchte Wand neben der Tür. »Die Geschichte wird immer
unglaublicher. An den Kennzeichen im Kofferraum und an dem Schraubverschluss
fanden sich winzigste Hautpartikel, deren genetischer Code mit dem unserer
unbekannten Leiche von vor fast vier Jahren identisch sind.«
Schweigen. Betretenes Schweigen.
»Sagen Sie das noch mal«, forderte ein
völlig verdutzter Häberle den Kollegen auf. Der konnte es selbst nicht fassen,
wiederholte aber: »Ja, es ist so. Das Zeug in Blühms Auto muss irgendwann und
irgendwie der verkohlte Mensch in den Fingern gehabt haben.«
»Irgendwann und irgendwie«, wiederholte
der Kommissar und fasste sich ratlos ans Kinn.
Auch Linkohrs Erstaunen war unüberhörbar: »Da
haut’s dir’s Blech weg.«
Auch in Lugano war dieser Dezember-Vormittag kalt und ruppig. Jens
Vollmer hatte sich noch nicht von dem gestrigen Anruf aus Deutschland erholt. Die
Kriminalpolizei war also tätig und wusste offenbar, dass es eine Verbindung
zwischen ihm und seinem alten Physiklehrer Blühm gab. Der junge Mann hatte die
ganze Nacht über kein Auge zugetan. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Claudia, die er einmal so sehr geliebt hatte, war angeblich in die
Weihnachtsferien gegangen, doch ihre Handy-Nummer schien abgemeldet zu sein. Er
konnte sie nicht erreichen. War es nicht besser, diesen Job hier aufzugeben und
auch zu verschwinden? Zurück nach Deutschland, auf die Alb. Doch der Vertrag,
den er mit Armstrong abgeschlossen hatte, sah in solchen Fällen enorme
Schadensersatzforderungen vor. Ganz zu schweigen von den juristischen Folgen,
die er überhaupt nicht überblicken konnte. Und sie mit Anja, der sympathischen
Jura-Studentin aus Morcote zu besprechen, wagte er angesichts der
Geheimhaltungspflicht auch nicht. Vielleicht würde sein »väterlicher Freund«
weiterhelfen können, der für die nächsten Tage sein Kommen angekündigt hatte.
Vollmer blickte von seinem Appartement am
Hang des Monte Bré über die Dächer Luganos hinweg. Die Stadt, so schön sie im
Frühling und Sommer war, wirkte jetzt genauso trist, wie jede andere. Er freute
sich aufs kommende Wochenende und auf das Treffen mit Anja.
Erst die elektronischen Töne des Telefons
erlösten ihn aus dem wilden Sturm seiner Gedanken.
Er
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