Trugschluss
Männer gespannt verfolgte, »ich
hab lang genug an dieser Sache rumgemacht – im Sommer werden’s schon vier
Jahre, ich hab Einblick, sehr tiefen Einblick sogar, Herr Kommissar. Und bevor
ich daheim auch noch einem mysteriösen Verkehrsunfall zum Opfer falle, will ich
den entscheidenden Moment am Ort des Geschehens erleben.«
Häberle verengte die Augenbrauen und
lehnte sich zum Fenster, um den Mann links neben sich fixieren zu können.
Susanne schluckte.
»Es steht also etwas bevor …?« Kaum hatte
er diese Frage ausgesprochen, war Häberle klar, dass er damit seine
Unwissenheit preisgegeben hatte.
Über Brobeils Gesicht zuckte ein
mitleidiges Lächeln. »Ich denke, Ihnen ist das klar …?« Der Kriminalist hob
beschwichtigend die Hände und sah in das irritierte Gesicht seiner Frau. »Um
ganz ehrlich zu sein – ich stochere ziemlich im Nebel rum. Wie Sie vielleicht
bemerkt haben, hat die Polizei den Fall Blühm in jüngster Zeit nicht mehr mit
großem Nachdruck verfolgt.«
»Das ist mir nicht entgangen«, stellte
Brobeil fest. Er belegte sich ein weiteres Brot. Offenbar war er ohne Proviant
losgefahren und hatte bislang kein Rasthaus angesteuert. »Und nun sind Sie
sozusagen …« Er suchte die passende Formulierung, »sozusagen inoffiziell
unterwegs, auf fremdem Territorium. Dürfen Sie das überhaupt?«
»Ich hab ein freies Weekend«, konterte
Häberle trotzig.
»Ach, daher weht der Wind«, stellte
Brobeil einigermaßen zufrieden fest, »dann können wir beide auf eigene Faust
rumschnüffeln. Wissen Sie was: Das gefällt mir.« Er reichte Häberle die Hand,
um die gemeinsame Sache zu besiegeln. »Aber«, fügte er ernst hinzu, »Sie
sollten sich in Acht nehmen, Herr Kommissar. Sie könnten schneller Ihren Job
los sein, als Ihnen lieb ist. Und bis zur Rente haben Sie wohl noch ein bisschen
hin, oder?«
Sander hatte sich nur ein paar Minuten mit Lilo unterhalten. Sie
schien wieder mit den Nerven völlig am Ende zu sein. Ihr Mann war auf
Geschäftsreise und würde erst am morgigen Samstag heimkommen – und Jörg
Brobeil, der Theologe, hatte offenbar das Handy ausgeschaltet oder er befand
sich irgendwo in einem Funkloch. Die Frau klang wirklich verzweifelt.
Sander verließ Hals über Kopf die
Redaktion und fuhr mit dem weißen Polo durch einen frühlingshaften Mittag nach
Steinenkirch. Lilo, deren Gesicht kreidebleich war, erwartete ihn bereits an
der Tür. Im Vorgarten blühten Schneeglöckchen und Krokusse. »Danke, dass Sie so
schnell gekommen sind«, begrüßte sie den Journalisten. »Es ist unerträglich, so
schlimm wie nie zuvor«, sagte sie und ging voraus zu dem schweren
Esszimmertisch. »Ich hab den Eindruck«, fuhr sie fort, als sie sich gegenüber
saßen, »ich hab den Eindruck, als ob mir der Schädel zerspringen würde. So laut
war’s tagsüber noch nie.«
Sander lauschte für einen Augenblick,
konnte aber außer dem dezent spielenden Radio nichts hören. Den Tisch
schmückten ein schlichter Kerzenhalter und ein Strauß mit Frühlingsblumen.
»Ständig, auch jetzt?«, fragte Sander
einfühlsam nach und zog seinen Notizblock heraus.
Lilo nickte und fingerte am Kerzenhalter. »An,
aus – an, aus – wie eine Maschine, die umschalten will.«
»Und die anderen? Ich meine, die in
Blaubeuren und anderswo?«
»Ich hab mit Norbert telefoniert. Er hat
auch die ganze Nacht nicht geschlafen.«
Sander beschloss, einen neuen Artikel über
das Thema zu schreiben – mit einer Zusammenfassung über alle Hintergründe, die
er selbst in den vergangenen Wochen und Monaten erfahren hatte.
»Noch was«, sagte die Frau plötzlich, »wenn
ich über alles so nachdenke, Herr Sander: Ich bin davon überzeugt, dass es in
unseren Reihen jemanden gibt, der unsere Nachforschungen weitergegeben hat.«
Der Journalist verstand nicht ganz. »Weitergegeben?
An wen?«
»An unsere Gegner.« Lilo zeigte sich
selbstbewusst. »An all die, denen unsere Nachforschungen ein Dorn im Auge sind.
Denken Sie doch an Thomas Steinbach – aber auch an diesen Kirchner vom
Truppenübungsplatz in Münsingen droben. An den Überfall auf mich, an Herrn
Blühm – ja, und letztlich an diese Leiche bei Hohenstadt. Herr Sander, das
können keine Zufälle sein.«
Sander schrieb mit und nickte
verständnisvoll.
»Da ist jemand, der uns verrät«, stellte
Lilo fest. Ihre Augen waren glasig.
»Haben Sie einen Verdacht?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein.«
Um dann vorsichtig hinzuzufügen:
»Nicht direkt,
Weitere Kostenlose Bücher