Trugschluss
Schwäbischen Alb, diese Enge und
diese vernebelten Hänge, diese vielen ruppigen Tage und Wochen, diese ewige
Unbeständigkeit – all das hatte er hinter sich gelassen. Mit einem Schlag – und
mit einem einzigen Entschluss. Ihm war auch gar nichts anderes mehr übrig
geblieben. Sie hatten ihn gejagt und gehetzt, bedroht und eingeschüchtert. Und
seine Frau war mit allem, was er seit seiner Pensionierung tat, nicht
einverstanden gewesen. Sie hatte verreisen wollen – doch als er die vielen
Kontakte, die er zu früheren Studienkollegen und Schülern unterhielt, intensivierte,
da wurde ihm klar, dass er ganz andere Ziele verfolgen würde. Er wollte nicht
den ruhigen Rentner spielen, den spießigen Provinzler oder sich als
Kommunalpolitiker endlosen und wenig ergiebigen Diskussionen hingeben. Nein,
sein Traum war es seit jeher gewesen, sich wissenschaftlich zu betätigen. Viel
zu lange war er Lehrer gewesen, hatte Physik und Chemie unterrichtet, aber auch
Fächer, von denen er reichlich wenig verstand, wie etwa Französisch. Noch vor
seiner Pensionierung war er systematisch mit vielen seiner Studienfreunde in
Kontakt getreten. Dabei stellte sich heraus, dass ausgerechnet jener, der einst
auf der Universität sein bester Freund gewesen war, viele Jahre in den USA
geforscht hatte. Es handelte sich um ein Projekt, das so etwas wie die
Weiterentwicklung des ›Star-War‹-Programms sein sollte.
An diesem späten Samstagvormittag war der
Weißhaarige ernst. Im sonnigen Garten eines kleinen Hotels in Paradiso, direkt
unterm San Salvatore, saß ihm eine junge Frau gegenüber, die mit ihrer kurzen
Jeanshose und ihrem ärmellosen weißen Pulli überaus attraktiv erschien. Ihre
braunen Haare waren wellig und erinnerten an eine Löwenmähne.
»Ich fühl’ mich moralisch dazu
verpflichtet«, stellte Bruno Blühm fest, »wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er
trug eine dünne Leinenhose, Turnschuhe und ein kurzärmliges blaues Hemd. Er
machte auf jugendlich.
Über das Gesicht der Frau huschte ein
gekünsteltes Lächeln. »Versteh ich. Als ich erfahren hab, was hier abgeht, war
ich zutiefst geschockt – das dürfen Sie mir glauben.« Sie blickte auf diesen
herrlichen See hinaus, an den der gepflegte Rasen des Hotelgartens grenzte. Um
einen Swimmingpool waren weiße Plastikstühle und -tische gruppiert und warteten
auf Gäste. Von der nahen Straße drangen Verkehrsgeräusche herüber.
»Jeder noch so revolutionären Entwicklung
sind Grenzen gesetzt«, sagte Blühm und fügte nachdenklich hinzu: »Ethische,
moralische. Jedenfalls ist dies mein Verständnis von Wissenschaft.«
Die junge Frau schlug ihre nackten Beine
übereinander. »Aber wir beide werden nichts daran ändern.« In ihrer Stimme
klang Resignation – und Enttäuschung, als sie feststellte: »Dabei hab ich so
sehr daran geglaubt, für eine gute Sache zu kämpfen. Damals, als sie mich
angeworben haben …«
»… um diese Brummton-Leute auszuhorchen?«,
vollendete Blühm fragend den Satz.
Sie nickte und zog eine Schnute. »Na ja,
Norbert war doch ganz wild drauf, die Sache aufzudecken. Ein Spinner, wirklich
ein Spinner, der gute Norbert. Sie erinnern sich: Er ist versessen drauf, ein
Perpetuummobile zu basteln. Auf der einen Seite ist er ein Genie, was
elektronische Geräte anbelangt – er repariert selbst uralte Videorecorder noch.
Und auf der anderen Seite will er mit Gewichtsverlagerung und Hebelwirkungen
die Schwerkraft überlisten – wie im finstersten mechanischen
Dampfmaschinen-Zeitalter.« Die junge Frau lächelte mitleidig und sah, wie
drüben in der Bucht von Lugano ein Ausflugsdampfer anlegte.
»Wie ist denn der Kontakt zustande
gekommen – ich meine: Zwischen Ihnen und diesen Leuten vom Truppenübungsplatz
in Münsingen?« Blühm strich sich über den weißen flauschigen Vollbart, den er
sich sofort nach seinem Verschwinden hatte wachsen lassen. Ihm war klar
gewesen, dass man ihn im Tessin vermuten würde. Allerdings wusste er auch, dass
es seitens der Polizei eigentlich keine Handhabe gab, ihn zur Fahndung
auszuschreiben. Erwachsene Personen konnten sich ohne Angabe von Gründen
absetzen, wohin sie wollten – und sie wurden auch nicht zur Fahndung
ausgeschrieben, wenn es keinen Verdacht auf ein Verbrechen gab. Und warum
sollte es dies auch?
»Pfingsten war’s – eines dieser Pfingsten«,
erklärte die Frau und schloss für einen Moment die Augen, »es ist eine alte
Tradition, dass ein kleiner Teil des Truppenübungsplatzes an Pfingsten
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